Wo der Arzt allmächtig Gott spielt

AUS WARSCHAU GABRIELE LESSER

In Polen kommen jedes Jahr rund 12.000 behinderte Kinder zur Welt. Nur bei jedem zehnten Fötus entdecken die Ärzte einen Herzfehler bereits vor der Geburt. Nur diese Kinder haben eine Chance, die Geburt zu überleben. Die meisten Neugeborenen mit einem angeborenen Organfehler sterben auf dem Transportweg in eine Spezialklinik. Dies sind die Folgen eines fehlenden Vorsorgeprogramms für Schwangere in Polen. Anders als im wesentlich kleineren Tschechien, wo jährlich rund 10.000 pränatale Untersuchungen durchgeführt werden, sind es in Polen gerade mal rund 1.500. Schuld an der hohen Zahl behinderter Kinder, die man bei einer rechtzeitigen Diagnose hätte heilen oder schon im Mutterleib behandeln können, sind aber auch polnische Gynäkologen, die sich auf ihr „Gewissen“ berufen. Mit dem Verweis auf den angeblichen Willen Gottes lehnen sie es ab, Frauen mit einer Risikoschwangerschaft an eines der knapp zehn Spezialinstitute in Polen zu überweisen.

„Hier ist der Arzt Gott“ – mit diesen bitteren Worten klagte im April 2002 Barbara W. aus dem ostpolnischen Lomza zwei Ärzte, das Bezirkskrankenhaus sowie die Ärztekammer im Bialystok an. Die inzwischen zweifache Mutter von schwer behinderten Kindern will vor Gericht 1,4 Millionen Zloty (rund 330.000 Euro) Entschädigung erstreiten, mit denen sie in den kommenden Jahren die notwendigen Operationen der Kinder, die Rehabilitation und Pflege finanzieren will. Obwohl die Ärzte wussten, dass das erste Kind, Barbara W., an Hypochodroplasie litt, einer genetisch bedingten Kleinwüchsigkeit, lehnten sie den Wunsch der erneut Schwangeren nach einer pränatalen Untersuchung ab. Die junge Frau wolle ja nur das Kind abtreiben, wurde ihr vorgehalten.

Tatsächlich fürchteten sich Barbara und Slawomir W. vor der Geburt eines zweiten schwer behinderten Kindes. Das junge Ehepaar lebt am Rande des Existenzminimums in einer winzigen Wohnung. „Seit der Geburt meiner Tochter habe ich keine Nacht durchgeschlafen. Man muss sie ständig massieren, so sehr schmerzen sie die Gelenke und Knochen. Sie weint ganze Nächte hindurch“, erzählte die knapp 27-Jährige einer Reporterin der Gazeta Wyborcza. Die vierjährige Monika hat bereits mehrere schwere Lungenentzündungen und Krankenhausaufenthalte hinter sich, redete kaum und lief im Entengang durch die Wohnung, mit viel zu kurzen Beinen, die den normal entwickelten Oberkörper und Kopf kaum tragen konnten. Soll Monika kein Pflegefall werden, muss sie in der Wachstumsphase mehrfach operiert und intensiv behandelt werden. Da die Krankenkassen in Polen die Kosten nicht vollständig übernehmen und Barbara W. fürchtete, der psychischen Belastung nicht gewachsen zu sein, wollte sie eine zweite Schwangerschaft abbrechen, sollte sich in der pränatalen Untersuchung erweisen, dass das Kind ebenfalls krank sein würde.

Nach polnischem Gesetz stand ihr dieses Recht zu. Das äußerst restriktive Abtreibungsrecht in Polen überlässt der Frau die Entscheidung, ob sie bei einem hohen gesundheitlichem Risiko für Mutter oder Kind die Schwangerschaft austragen will oder nicht. In der Praxis hat die Frau dieses Recht meist nicht. 2002 kam es in ganz Polen zu rund 160 legalen Abbrüchen. Im Falle von Barbara W. hatten zwei Ärzte in Lomza der Schwangeren die pränatale Untersuchung verweigert und ihr versichert, dass das Kind gesund sein würde. Erst im siebten Monat sagte man ihr lakonisch: „Es tut uns Leid.“

Zwar hatte das Warschauer Institut für Mutter und Kind schon im November 2002 ein umfassendes Vorsorgeprogramm für Risikoschwangere entwickelt. Doch seither wechselten die Minister mehrfach, und das Programm blieb einfach unbearbeitet liegen. Und so haben werdende Mütter in Polen bis heute kaum eine Chance, sich auf die Geburt eines behinderten Kindes vorzubereiten oder aber Sorge dafür zu tragen, dass ein Kind mit angeborenem Organfehler entweder schon im Mutterleib behandelt wird oder in einer Spezialklinik zur Welt kommt, wo es direkt nach der Geburt operiert werden kann.

Der Prozess gegen die Ärzte mit dem guten Gewissen läuft seit inzwischen zwei Jahren. Noch ist kein Ende abzusehen. Im Gegenteil: 2003 gab es einen erneuten Vorstoß katholischer Ärzte, bestimmte pränatale Untersuchungen und Behandlungen wie auch die In-vitro-Befruchtung aus dem ärztlichen Eid des Hypokrates auszuschließen.

Anna Jakubowska, dreifache Mutter und eine bekannte Feministin und Aktivistin in Polen, sagt: „Wenn ein Arzt anstelle der Schwangeren entscheidet, dass diese ein schwer behindertes Kind zur Welt bringen soll, dann ist er in gewissem Sinne auch der Vater dieses Kindes. Er sollte daher auch die Verantwortung und Kosten für die Behandlung, Pflege und Erziehung dieses Kindes übernehmen.“