Mehr warnstreiken für weniger Arbeit

IG Metall will in Ostdeutschland die 35-Stunden-Woche durchsetzen. Rund 1.500 Beschäftigte legten Arbeit nieder

BERLIN taz ■ Der Berliner Azubi Marcel Hesse versteht die Welt nicht mehr. „Wir Jugendlichen kennen die Mauer gar nicht mehr, aber sie ist immer noch da.“ Auf der Ostseite der Straße werde 35 Stunden pro Woche gearbeitetet, auf der westlichen 38 Stunden. „Verrückt ist das.“ Hesse und andere Berliner Metall-Azubis haben deshalb ein Transparent gemalt, das sie gestern in der Berliner Innenstadt hochhalten: „Die Mauer muss weg.“

Rund 150 Metall-Gewerkschafter mögen es sein, die sich vor der Ostberliner Zentrale der Aufzugfirma Otis unweit der ehemaligen Grenze versammeln. Sie sind aus mehreren Berliner Metallbetrieben in einem Autokorso in die Innenstadt gekommen, um für die 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich zu kämpfen. Ihr Motto scheint so klar wie der blaue Berliner Frühlingshimmel: „Arbeit fairteilen“. Es sind die alten Argumente rund um die Arbeitszeitverkürzung, die in Ostdeutschland ausgetauscht werden.

Am Montag begann die IG Metall mit ihren Warnstreiks, um die Absenkung der Wochenarbeitszeit von 38 auf 35 Stunden durchzusetzen. An den Arbeitsniederlegungen beteiligten sich gestern rund 1.500 Beschäftigte, seit Montag waren mehrere tausend vorübergehend im Ausstand. Die Kampfmaßnahmen werden bis Freitag fortgesetzt, am kommenden Montag stehen dann wieder Tarifverhandlungen mit den Unternehmerverbänden für die rund 310.000 Beschäftigten der Branche an.

„Bei fast fünf Millionen Arbeitslosen muss die Arbeit besser verteilt werden“, sagt einer der Warnstreikenden. Rein rechnerisch brächte die Arbeitszeitverkürzung in der Otis-Niederlassung in Berlin-Mitte, wo rund 170 Beschäftigte arbeiten, etwa 18 neue Arbeitsplätze. Allerdings räumt auch Betriebsrat Wolfgang Koss ein, dass diese Rechnung nicht eins zu eins aufgeht. „Aber wenn es nur überall die Hälfte wäre, hätten wir viel gewonnen.“

Die warnstreikenden Metaller glauben nicht, dass sie mit ihren Forderungen Arbeitsplätze, vor allem in kleineren Betrieben, gefährden. Sie können die Argumentation der Unternehmer nicht nachvollziehen, dass sie damit die Arbeit verteuern und so die Konkurrenzvorteile der Ostunternehmen untergraben würden. „Wenn es wirklich so wäre, dass die Arbeit dahin ginge, wo sie billig ist, hätten wir in Mecklenburg-Vorpommern Vollbeschäftigung“, sagt eine Metallerin.

Der Branche geht es in Ostdeutschland insgesamt nicht so schlecht, wie oft vermutet wird. Die IG Metall erwartet in diesem Jahr Umsatzsteigerungen von vier bis sechs Prozent. Dabei wachse die Produktivität stärker als im Westen, und diesen Produktivitätszuwachs wollen die Metaller nun in eine geringere Arbeitszeit umwandeln. Denn inzwischen habe die Produktivität mit den Löhnen gleichgezogen – sie liege in beiden bei rund 70 Prozent des Westniveaus.

Der Verband der Metall- und Elektroindustrie in Berlin und Brandenburg (VME) kritisierte die Warnstreiks heftig. VME-Hauptgeschäftsführer Dr. Hartmann Kleiner: „Das ganze Streikszenario aufzufahren ist für uns völlig unverständlich. Es ist ein Streik für umsonst, denn keinem Beschäftigten bringt die Forderung auch nur einen Cent mehr in der Brieftasche.“ In Sachsen und Thüringen drohten die Unternehmer bereits mit Aussperrungen.

RICHARD ROTHER