BERNHARD PÖTTER über KINDER
: Der Zustand der Welt? Kopfstand!

Neugeborene sehen alles verkehrt herum. Sie haben ganz Recht. Diese Perspektive auf die Welt ist die einzig logische

Antoine de Saint-Exupéry war ein großartiger Schriftsteller. Und ein guter Pilot. Aber ein lausiger Mediziner. Sonst hätte er seinen „Kleinen Prinzen“ nicht sagen lassen: „Man sieht nur mit dem Herzen gut.“

Das ist natürlich Quatsch. Stan ist fünf Wochen alt und sein Herz völlig in Ordnung. Aber trotzdem reißt er die Augen auf, als könne er etwas verpassen. Manchmal rollen ihm die Augäpfel noch im Kopf herum wie lose Murmeln. Aber meistens starrt er in die Welt mit einem Blick, als könne er einfach nicht fassen, was er da so geboten bekommt. Der halb geöffnete Mund und der Speichel, der manchmal daraus tropft, machen den Anblick unseres Drittgeborenen nicht vorteilhafter.

„Er ist fasziniert vom Wunder, auf der Welt zu sein“, sagt unsere Freundin Julia, der ich immer schon einen leichten Hau ins Esoterische unterstellt habe. „Er staunt halt so in die Welt. Und er erinnert sich noch an all die wunderbaren Dinge, die er vor der Geburt gesehen hat.“

Ach ja? Was könnte das sein? Die Nabelschnur, die immer vor seiner Nase rumschwebte, in Großaufnahme? Nein, in Wirklichkeit hat Stan jedes Recht zu glotzen. Schließlich sieht er Szenen wie aus einem surrealen Traum. Jonas und Tina sitzen in der Badewanne. Die Wanne klebt an der Decke, ihre Köpfe zeigen nach unten. Trotzdem bleibt das Wasser in der Wanne. Anna schiebt den Kinderwagen, als wäre sie in Australien: Sie steht auf dem Kopf, die Bäume wachsen in den Boden. Nur der gasgefüllte Luftballon tut, was er soll. Er schwebt auf dem Fußboden.

Am Anfang ist also der Kopfstand. Bei einem solchen Spektakel kann man schon mal ins Staunen geraten. „Alles in Ordnung“, sagt Hebamme Svenja. „In den ersten vier bis sechs Wochen sehen die Kinder alles verkehrt herum.“ Das liegt daran, dass die Bilder auf der Netzhaut des Auges verkehrt erscheinen. Mit der Zeit wird das korrigiert. „Für die Neugeborenen steht die Welt auf dem Kopf“, verkündet Svenja. „Aber es stört sie nicht.“ – „Toll“, sagt Anna. „Da kriegt Stan gleich den richtigen Eindruck davon, wie es hier seit seiner Geburt zugeht.“

Aus der richtigen Perspektive gesehen ist Stans Sichtweise gar nicht so abwegig. Schließlich betrachten wir alle die Welt oft wie die Fledermäuse. Und wundern uns nicht darüber, dass vieles auf dem Kopf steht: Auf den Straßen fahren Autos, die so viel kosten wie ein Reihenhaus. Das Pentagon gibt siebenmal so viel Geld für Panzer und Raketen aus wie alle Staaten der Welt zusammen für die Entwicklungshilfe. Die SPD baut den Sozialstaat ab, den sie 140 Jahre lang aufgebaut hat. British Petrol macht einen Jahresgewinn von 12,4 Milliarden Dollar und die BP-Aktie fällt. Hirnamputierte machen Hirnamputierte zu „Superstars“. Ken und Barbie lassen sich scheiden. Der Zustand der Welt? Kopfstand.

„Ich weiß gar nicht, was du dich so aufregst“, sagt Julia. „Das ist doch alles nicht neu. Kennen wir. Ärgert uns. Aber damit muss man eben leben.“ „Kein Grund zur Aufregung“, sagt auch Hebamme Svenja. „Euer Sohn wird die Welt auch weiterhin auf dem Kopf stehen sehen. Rein physikalisch jedenfalls, genau wie bei den Erwachsenen. Aber sein Gehirn sagt ihm bald, dass Mama und Papa nicht von der Decke hängen.“ Auch wenn sie sich manchmal so fühlen.

Das Hirn ist also der große und mildtätige Täuscher. Es macht Stan klar, dass die Welt nicht so sein kann, wie er sie sieht. Und dass er sie gefälligst anders zu sehen hat. Weil er sonst nicht mehr weiß, wo oben und unten ist. So wollen wir belogen werden. Und so bremst dieser Muskel zwischen seinen Ohren meinen Sohn, noch bevor der angefangen hat, sich einen eigenen Kopf zu bilden. Sein Hirn sagt ihm, dass die Bäume nicht in den Boden wachsen.

Für die ersten Jahre ist das genug. Dann kommt unser Auftritt. Schon in ein paar Jahren müssen wir Stans Sichtweise wieder den Gegebenheiten anpassen. Und ihm schonend beibringen, dass die Bäume erst recht nicht in den Himmel wachsen.