„Mit der Türkei wird die EU ein Global Player“, sagt Wulf Schönbohm

Gerade derzeit wäre die Aufnahme eines islamischen Landes in die Europäische Union ein überaus wichtiges Signal

taz: Herr Schönbohm, Sie waren jetzt sieben Jahre in der Türkei. Sie haben die Debatten um die Annäherung des Landes an die EU hautnah miterlebt. Was sind heute die größten Defizite bei der Erfüllung der Kopenhagener Kriterien von 1993?

Wulf Schönbohm: Die wichtigsten Veränderungen sind vollzogen, die in Kopenhagen formulierten politischen und wirtschaftlichen Bedingungen sind im Großen und Ganzen erfüllt. Die jetzige Regierung hat, aufbauend auf den Veränderungen, die seit 1999 – als die EU die Türkei auf dem Gipfel in Helsinki zum Beitrittskandidaten gemacht hat – durchgeführt wurden, ein enormes Reformtempo vorgelegt. Sie hat sogar, was niemand für möglich gehalten hätte, das Militär in seine Schranken gewiesen und aus dem politischen Alltag herausgedrängt. Die Abteilung für psychologische Kriegsführung, die primär gegen innenpolitische Gegner eingesetzt worden war, wurde aufgelöst. Was jetzt noch fehlt ist ein grundlegender Mentalitätswandel im Apparat, in der gesamten Bürokratie, die ja zurzeit noch etliche Regierungsentscheidungen, siehe kurdische Sprachkurse, geradezu konterkariert.

Wenn Sie also den EU-Kommissionsbericht schreiben müssten, würden Sie die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen empfehlen?

Ganz klar ja. Wenn die EU ihre eigenen Kriterien und Beschlüsse ernst nimmt, muss sie Ende des Jahres Beitrittsverhandlungen mit der Türkei beginnen. Dabei ist klar, dass diese Verhandlungen lange dauern werden, einmal weil die Türkei ihre Reformen erst überall im Land durchsetzen muss. Denn wird es dauern, bis der Lebensstandard soweit gewachsen ist, dass das Gefälle zu den anderen EU-Ländern nicht mehr zu groß ist. Und auch die EU braucht Zeit zum Verdauen der neuen Beitritte.

Hat die Türkei ihre Verpflichtung, auf Zypern zu einer Lösung beizutragen, auch dann hinlänglich erfüllt, wenn es bis Mai noch nicht zu einer Vereinigung gekommen sein wird?

Die Regierung Erdogan hat gegen massive Widerstände im Land den Zeitplan des UN-Generalsekretärs durchgesetzt. Es kann trotzdem noch viele Schwierigkeiten geben – aber die kann man Ankara nicht anlasten. Erdogan hat sich mit großem politischen Risiko engagiert.

Es gibt die Befürchtung, dass die derzeitige Regierung die Annäherung an den Westen nur betreibt, um letztlich ihr religiöses Programm durchzusetzen.

Sie hat mit dem, was sie bislang getan hat, zu dieser Befürchtung keinen Anlass gegeben. Dafür, dass erstmals in der Geschichte der türkischen Republik, nun die kleinen Leute die Regierung stellen, hat sie im Gegenteil erstaunlich liberal gehandelt. Dass Erdogan in absehbarer Zeit wahrscheinlich versuchen wird, wenigstens den Studentinnen an der Universität zu erlauben, ein Kopftuch zu tragen, empfinde ich nicht als Beleg für eine islamische Revolution.

Ihre Parteikollegin, die baden-württembergische Kultusministerin Schavan, hat kürzlich in einem Interview gesagt, es gäbe viele Staaten auf der Welt, die die Kopenhagener Kriterien erfüllen, und die EU käme dennoch nie auf die Idee, mit ihnen über einen Beitritt zu verhandeln.

Das ist natürlich ein unsinniges Argument. Es gibt feste Vereinbarungen zwischen der EU und der Türkei, die auch die CDU nicht kippen kann.

Trotzdem, was hat die Europäische Union davon, wenn sie die Türkei aufnimmt?

Warum hat man diese Frage eigentlich nicht gestellt, als es um Polen und die Baltischen Staaten ging. Warum will man Bulgarien und Rumänien der Türkei vorziehen, obwohl beide Länder in punkto Rechtsstaatlichkeit und Wirtschaftsentwicklung weit hinter der Türkei her hinken? Die meisten Argumente gegen eine Aufnahme der Türkei empfinde ich als ziemlich kleinkariert. Mit der Türkei bekommt die Europäische Union eine neue Dimension. Sie wird ein Global Player. Die Aufnahme wäre ein weltpolitisches Signal, nicht zuletzt an die islamische Welt. Dass die EU ein islamisches Land aufnimmt und damit zeigt, dass westliche Demokratie und eine überwiegend muslimische Bevölkerung sich nicht ausschließen, ist gerade jetzt ein Signal von überragender Bedeutung.

Das Argument Ihrer Parteiführung und vieler anderer ist, die EU könnte es sich nicht mehr leisten, Global Player zu werden und die Türkei aufzunehmen. Die Kassen seien leer.

Die Türkei ist ein junges Land und hat eine enorm dynamische Wirtschaft. Wer weiß, wie das hier in zehn bis fünfzehn Jahren aussieht. Mit der jetzigen Regierung gibt es erstmals seit langem positive politische Rahmenbedingungen für die Wirtschaft. Ich rechne damit, dass es hier in den kommenden Jahren zu einem enormen Aufschwung kommt.

Warum will dann die CSU einen „Türkei: nein danke“-Europawahlkampf machen?

Nun jede Partei muss wissen, was sie tut. Ich halte das für falsch, schon allein deshalb, weil das kommende Europaparlament ja gar nicht über einen Türkeibeitritt entscheiden wird. Das kommt ja erst viel später. Außerdem fürchte ich, dass das Thema durch Wahlkampfsprüche unnötig emotionalisiert wird. Die Kampagne ist zudem nicht ehrlich. Glauben Sie, eine CDU/CSU, die 2006 an die Macht kommt, würde in der EU den Antrag stellen, Beitrittsgespräche mit der Türkei abzubrechen? Natürlich nicht. INTERVIEW: J. GOTTSCHLICH