„Ich frage mich, ob China der Sonntag der Erde ist“: Kurze Filme von und mit Chris Marker im Metropolis
: Zärtlichkeit der Bilder, Zärtlichkeit des Denkens

Das Schönste am Film ist, dass er zärtlich zur Wirklichkeit sein kann. Von Haus aus dokumentarisch, erweist er den Dingen und Wesen Reverenz, lässt sie sie selbst sein, streichelt sie mit Kontemplation – wie Noah seine Tiere in Chris Markers Theorie des Ensembles (1990, Musik: Alfred Schnittke). Bei Marker kommt zur natürlichen Zärtlichkeit des filmischen Bilds die spezifische des Marker‘schen Denkens. So ist der besorgte Noah dieses sokratischen Trickfilms auf der Suche nach der richtigen, schonenden Begriffs-Ordnung für seine Passagiere.

Und wo Gedanken streicheln, tun es auch die Worte. Markers erster eigener Film Dimanche à Pekin, eine erdig-bunte Flanerie durch die Freizeitwelt des jungen kommunistischen Chinas von 1955, endet mit dem Satz: „Und während ich über diesen Sonntag in Peking nachdenke, frage ich mich, ob nicht China der Sonntag der Erde ist.“ Welche Wärme! Und zugleich, welch freundliche Neckerei: Das kommunistische China als der Tag des Herrn.

Vom Material und Schnitt her ist Dimanche à Pekin eher eine Reportage und kein Essayfilm wie etwa Sans Soleil (1983), für den Marker am berühmtesten ist und der das Genre gültig definiert. Aber auch schon in Pekin lässt sich der essayistische Kommentarstil Markers beobachten: subjektiv, dialektisch gelenkig, rhetorisch brilliant und poetisch mutig.

Im Programm des heutigen Filmabends im Metropolis kann man das weiterverfolgen, und zwar auch an Filmen, bei denen Marker nicht als Regisseur, sondern „nur“ als Autor mitgewirkt hat. So in A Valparaiso (1969), bei dem Regisseur Joris Ivens große Probleme mit dem Kommentar hatte – Marker half aus. Der Film erzählt von der chilenischen Hafenstadt, die seit der Eröffnung des Panamakanals stark an Bedeutung verloren hat. Die Stadt am Hang ist von unzähligen Lastenaufzügen und Treppen durchzogen, der Alltag der Bewohner ein einziges Auf und Ab. „Bizarr“ nennt der Kommentator dieses mühsame Leben, man denkt an Buñuels böse Dorfstudie Las Hurdes.

Doch während Buñuel die Armen für dumm erklärt, freut sich Marker daran, wie sie feiern und tanzen. Der Film endet mit einem Schlussbild, das man nicht vergisst: bei der Fahrt bergab in der Zahnradbahn weht in Zeitlupe ein langer Brautschleier aus der Kabine.

Formal komplexer ist der Kommentar in Markers Vive la baleine, einer Kulturgeschichte des Wals, die das Walfangmoratorium von 1972 unterstützen sollte. Er ist – unkommentiert – aufgeteilt in zwei Stimmen, männlich und weiblich: Erstere eine Art allwissend-fader Museumsführer, Zweitere charmant, spontan, assoziativ – ein Abbild des wilden Denkens des Inneren. Die beiden über den lebendig montierten Gemälden und Stichen interferierenden Stimmen sind zugleich ein Bild des Essayfilms selbst, der stets zwischen dem Pol des Wissens, des Dokumentarischen und dem des Subjektiven und Energetischen oszilliert. In diesem Verfahren ist das Subjektive zugleich von eigentümlicher Objektivität – es soll nicht den Autor verewigen, der im Fall Markers, der kaum Interviews gibt und sich hinter diversen Pseudonymen versteckt, eh eine Chimäre ist. Sondern es soll dem Zuschauer einen eigenen Denkraum eröffnen. Der Sechsminüter Junkopia (1981), in dem Marker eine aus Schrott erbaute Landschaftsplastik zeigt, ist dabei besonders radikal: Er verzichtet ganz auf einen Kommentar. Jakob Hesler

heute, 21.15 Uhr, Metropolis