Der Charismatiker

Die Arte-Dokumentation „Chávez – Ein Staatstreich von Innen“ ist so parteilich wie echt – und gut (20.45 Uhr)

Mut hat er, und wenn es der Mut zu modischen Statements ist. Hugo Chávez, so lernen wir bereits zu Beginn von „Chávez – Ein Staatstreich von Innen“, trägt bei öffentlichen Auftritten gern ballonseidene Trainingsanzüge, bevorzugt in den Nationalfarben Venezuelas. Er macht kein Geheimnis daraus, Bush zu verachten, ist mit Castro befreundet und tut auch ansonsten alles in seiner Kraft stehende, den Nachbar im Norden zur Weißglut zu treiben. Einer, der das Wort „neoliberal“ eher angewidert ausspucken als aussprechen würde. Kurz: Ein Präsident, der zur Ikone der Antiglobalisierungsbewegung avancieren könnte, würde man ihn nur im Entferntesten ernst nehmen.

Und so ist auch dieser Tage und Wochen in deutschen Medien wenig über die Hintergründe der angespannten Lage Venezuelas zu erfahren, viel hingegen über den angeblich größenwahnsinnigen Präsidenten. Da attestieren ihm Exgeliebte öffentlich Unzurechnungsfähigkeit (taz vom 16. April), da wird kopfschüttelnd über Chávez’ bis zu sechsstündige Fernsehshow „Aló Presidente“ berichtet. Und immer schwingt die Frage mit: Ist der Mensch noch zu retten?

Kim Bartley und Donnacha O’Briain, die Autoren der einstündigen Dokumentation für den heutigen Themenabend „Miseria Latina – Lateinamerika am Abgrund“, bewegten andere Fragen: Sie sehen in ihm einen neuen Typus Politiker, der sowohl den korrupten Eliten seines Landes als auch den Hegemonialinteressen der USA den Kampf ansagt. Und bewundern ihn ganz offen: Chávez, der Mann der Massen, der Charismatiker, der den Reichtum des viertgrößten Erdölproduzenten der Welt gerechter verteilen will. Die extreme Parteilichkeit der Doku funktioniert so gut, dass man als Zuschauer stolz auf der Seite der Underdogs mitkämpft und -leidet, wenn sich Chávez einer Hetzkampagne sondergleichen ausgesetzt sieht: Da werden seine Anhänger auf allen sechs privaten Fernsehkanälen des Landes mit denen von Hitler und Mussolini verglichen, und in Talkshows diskutiert man ganz ernsthaft, ob der Präsident unter einem Sexualkomplex leide oder gar in Castro verliebt sei.

Und so wirkt die Präsidialshow im staatlichen Sender, der zwar wie der offene Kanal hierzulande wirkt, ihn aber wenigstens zu Wort kommen lässt, plötzlich weniger bizarr als aus der Not geboren: Ein trotziges „jetzt erst recht“ an die Adresse der sämtliche anderen Medien kontrollierenden Öloligarchie.

Als Chávez im Februar 2002 so weit geht, die völlige Neuordnung der Ölindustrie anzukündigen, eskaliert die Lage und der Film mutiert endgültig vom engagierten Porträt zur Chronik eines angekündigten Putsches. Bartley und O’Briain sind aufseiten der Chávez-Regierung „embedded“, als am 11. April 2002 der Chef des größten Unternehmerverbandes Venezuelas, Pedro Carmona, mit der Rückendeckung Washingtons und einiger hoher Militärs zum Sturm auf den Präsidentenpalast bläst – und letztlich scheitert.

Und so freut man sich mit, dass die Präsidentschaft Carmonas nur wenige Stunden dauert, dass die Armen des Landes zu hunderttausenden für Chavez auf die Straße ziehen und zu guter Letzt die Präsidentengarde unter frenetischem Jubel der Massen den Palast zurückerobert. Ein parteiisches Politmärchen, an dessen Ende die versammelte Ministerschaft auf die Medlodie von „We are the Champions“ „Der Präsident ist zurück? singt. Und ein Film, der Lust macht, selbst einmal Präsident zu werden. Selbstverständlich in Ballonseide. CORNELIUS TITTEL