Mehr als Gegenmacht

Die Gewerkschaften müssen durch praktische Beispiele und innovative Modelle zeigen, dass sie die Arbeitswelt der Zukunft für alle Beschäftigtengruppen gestalten wollen

Gewerkschaften waren immer erfolgreich, wenn sie die Starken und die Schwachen vertraten

Wären die Gewerkschaften an der Börse notiert, ginge es ihnen wie den vielen Unternehmen, deren Kurse gefallen sind und deren Zukunft ungewiss ist. Ihr aktuelles Profil und ihre Performance beflügeln nicht die Fantasie potenzieller Unterstützer. Mit einem soliden Wertzuwachs oder gar großen Kurssprüngen ist nicht zu rechnen.

Die Gründe dafür sind bekannt: Individualisierung der Lebensverhältnisse, Globalisierung der Wirtschaft und Internationalisierung der Politik. Auch der technische Wandel in der Produktion und organisatorische Veränderungen in der Arbeitswelt machen den Gewerkschaften zu schaffen. Der soziale Wandel führt zu vielfältigen Lebensstilen und neuen, oft unsteten Erwebsbiografien. Beides erschwert kollektive Regelungen und engt den gewerkschaftlichen Handlungsspielraum ein. Eine Folge ist, dass sich die veränderte Beschäftigtenstruktur immer weniger in der Mitgliederstruktur der Gewerkschaften wiederfindet. Junge, Frauen, Angestellte und Hochqualifizierte sind unterrepräsentiert, neue Branchen entwickeln sich als gewerkschaftsfreie Zonen. Als Konsequenz sinkt die Macht der Gewerkschaften in den Betrieben, ihr Einfluss auf gesellschaftspolitische Entscheidungen geht zurück. Jetzt kommt mit der Radikalisierung der öffentlichen Debatten eine neue Herausforderung auf die Gewerkschaften zu. Sie werden als „Sonnenkönige der Verkrustung“, „Totengräber des Sozialstaates“ oder schlicht als „Plage“ diffamiert. Die Gewerkschaften stehen in der Öffentlichkeit als Blockierer und Reformverhinderer da.

Das darf aber nicht dazu führen, dass sie sich einigeln und ihre Erneuerung auf später verschieben. Der Rückzug in den Schmollwinkel ist keine Lösung. Die Geschichte lehrt: Organisationen, die sich nur über die Verteidigung des Erreichten identifizieren, können zwar noch lange als organisatorische Hüllen weiterexistieren. Aber ihnen wird ein Loser-Image anhängen, das sie für immer weniger Mitglieder attraktiv macht. Deshalb darf die Antwort auf die massiven Angriffe und die Alternative zu den gängigen Lösungsansätzen nicht im Rückgriff auf Vertrautes gesucht werden. Nur mit überzeugenden Vorschlägen für die Gestaltung des sozialen Wandels, mit neuen Konzepten für betriebliche Interessenvertretung und einer Professionalisierung ihrer Medienarbeit können die Gewerkschaften aus der zum Teil selbst verschuldeten Defensive kommen.

Etwa beim Thema „soziale Gerechtigkeit“ werden den Gewerkschaften in Umfragen regelmäßig hohe Kompetenzen zugesprochen. Folgerichtig stellt der Deutsche Gewerkschaftsbund dieses Thema in den Mittelpunkt seiner aktuellen Kommunikationskampagne. Und auch die IG Metall rückt es ins Zentrum ihrer Offensive: „Ja zu Reformen, nein zum Systemwechsel!“ Das ist gut, aber es reicht nicht aus, um aus der Defensive zu kommen. An den Diskussionen darüber, was heute angesichts von hoher Arbeitslosigkeit, leeren öffentlichen Kassen und unsicheren Perspektiven „sozial“ ist, haben sich die Gewerkschaften in den letzten Jahren nicht engagiert genug beteiligt. Selbstverständlich ist es notwendig, den Sozialstaat als Errungenschaft der Moderne zu schützen und zu verteidigen. Allerdings betonen die Gewerkschaften dabei die alten Gegensätze zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu sehr und unterschätzen die Dynamik der neuen Spannungslinien.

Das Gros der Gewerkschaftsmitglieder hat sichere Arbeitsplätze mit geregeltem Einkommen. Rechtlicher Schutz und ein hohes Maß von sozialer Sicherheit unterscheiden sie von einer wachsenden Gruppe, die als Dauerarbeitslose, niedrig Qualifizierte oder schwer Vermittelbare zu den Outsidern des Arbeitsmarkts gehören. Gewerkschaften waren historisch aber immer dann erfolgreich, wenn sie sowohl die Interessen der Starken als auch die der Schwachen vertreten haben. Heute bedeutet das, dass viele Beschäftigte mittelfristig Nachteile in Kauf nehmen müssen, wenn dadurch andere wieder eine Chance bekommen, im Arbeitsleben Fuß zu fassen. Es würde die Glaubwürdigkeit der Gewerkschaften bei der Mitgliedschaft und in der Gesellschaft stärken, wenn sie ihre Mitglieder auf diesem Weg konkreter Solidarität mitnehmen würden, anstatt ihnen zu suggerieren, alles könne beim Alten bleiben.

Ein weiteres Beispiel: Es ist schon lange eine Binsenweisheit, dass die langfristige Entwicklung der Bevölkerung unsere sozialen Sicherungssysteme nachhaltig verändern wird. Doch während die Gewerkschaften das nur langsam zur Kenntnis nehmen und sich widerstrebend mit den Folgen beschäftigen, müssten sie längst die alternde Erwerbsbevölkerung zu ihrem Thema machen. Wie kann die Lücke zwischen faktischem Renteneintrittsalter und gesetzlichen Zielgrößen – auch im Interesse der organisierten Beitragszahler – verringert und betrieblich mitgestaltet werden? Welchen Gruppen soll unter welchen Bedingungen ein früheres Ausscheiden aus dem aktiven Berufsleben ermöglicht werden, ohne dass der Konsens über die Höhe der Lohnnebenkosten völlig bricht? Was bedeutet es für Qualifizierung, Weiterbildung, Arbeitsorganisation und Produktionsabläufe, wenn die Belegschaften mittelfristig älter werden? Es reicht nicht aus, wenn die Gewerkschaften vom Staat Lösungen fordern und von den Unternehmen Antworten erwarten. Sie müssen durch praktische Beispiele und innovative Modelle zeigen, dass sie die Arbeitswelt der Zukunft für alle Beschäftigtengruppen gestalten wollen und können. Das erfordert betriebspolitische Initiativen und tarifpolitischen Gestaltungswillen.

Die Betonung der alten Gegensätze zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern bringt nichts

Zusätzlich zu diesen konzeptionellen Schwächen neigen die Gewerkschaften dazu, ihre Erfolge schlecht zu verkaufen. In der Praxis agieren sie oft als pragmatische Problemlöser. Gewerkschaften gestalten in Betrieben mit und verhalten sich dort als Komanager. In der Öffentlichkeit treten sie aber meist als Gegenmacht auf. Die Erfahrungen als Mitgestalter und die Bereitschaft zu problemorientierten Lösungen werden zu häufig verschwiegen. Statt ihre positive Leistungsbilanz – etwa in der Tarif- und Gesellschaftspolitik – in den Vordergrund zu rücken, vermitteln sie ihre Fähigkeit zur Blockade. Gegen das Image der Verhinderer können sie vorgehen, indem sie ihre Fähigkeit zur Differenzierung offensiv herausstellen und die Bereitschaft zum Mitgestalten betonen. Die Menschen erwarten von den Gewerkschaften konkrete Lösungsangebote für ihre Fragen und praxisnahe Ansätze für ihre Probleme.

Diese drei Beispiele zeigen, dass Gewerkschaften alles andere als überflüssig sind. Wenn sie versuchen, die Strukturen der Industriegesellschaft zu konservieren und Veränderung als Verfall brandmarken, werden sie scheitern. Sind sie aber bereit, sich gesellschaftlich zu öffnen, neue Ideen zu entwickeln und sich auf die Herausforderungen der Wissensgesellschaft einzulassen, haben sie eine Zukunft – und ihr Kurs wird wieder steigen. JUPP LEGRAND