Haiti muss sich selbst helfen

Für eine militärische Intervention kommen nur Frankreich und die USA in Frage. Beiden Ländern sollte man besser nicht trauen, denn bisher haben sie dem Land eher geschadet

USA und EU sollten die Opposition und Aristide mit diplomatischen Mitteln an den Verhandlungstisch drängen

Man darf sich nichts vormachen: Die Lage in Haiti ist katastrophal, und das schon ziemlich lange. Es ist ein Land, in dem der Präsident Schlägertrupps auf die Opposition hetzt, in dem eine erbärmlich ausgestattete korrupte Polizei längst nicht mehr für Recht und Ordnung sorgt, in der Wegelagerer selbst die wichtigsten Überlandverbindungen unsicher machen, in dem es kein nennenswertes Gesundheitssystem mehr gibt, kaum noch Wasser und so gut wie keinen Strom. Kurzum: ein gescheiterter Staat.

Aber man darf die Maßstäbe nicht verlieren. Haiti kann man nicht mit der Elfenbeinküste oder dem Kongo vergleichen, wie Dominic Johnson das im taz-Kommentar vom 21. Februar tut. Es gibt in Haiti keine Warlords mit politischen Zielen und auch keine Milizen. Sicher ist richtig, dass in den vergangenen zwei Wochen mehr als 50 Menschen erschossen, erschlagen oder gelyncht wurden. Und es stimmt auch, dass die viertgrößte und seit gestern auch die zweitgrößte Stadt des Landes von Aufständischen eingenommen wurden sowie zumindest zeitweilig rund ein halbes Dutzend weiterer Orte. Aber man muss sich vor Augen führen, was dies ganz konkret bedeutet: Da haben ein paar Dutzend Desperados, bewaffnet mit ein paar alten Flinten und Revolvern, die jeweiligen Polizeiwachen und Gefängnisse gestürmt. Die nach Zahl und Waffen unterlegenen Polizisten haben, wenn sie Glück hatten, rechtzeitig Reißaus genommen. Wenn sie Pech hatten, wurden sie vom Mob gelyncht.

Es spielten sich schreckliche Szenen ab, die Nachrichtenagenturen kabelten grausige Bilder um die Welt. Aber können ein paar Dutzend Desperados und gut 50 Tote Anlass für eine militärische Intervention sein? Thomas Schmid meint in der taz vom 20 Februar: Ja, wenn es sich um eine Intervention nach dem Vorbild von Albanien 1997 handelt. Wenn die Interventionsmacht sowohl die Aufständischen als auch die Schlägertrupps des Präsidenten entwaffnet. Wenn sie Bewegungsfreiheit schafft und ein sicheres Umfeld für Wahlen. Und wenn sie danach mithilft, eine professionelle Polizei und eine unabhängige Justiz aufzubauen. Wenn sie also das tut, was Haiti bitter nötig hat: einen Staat bilden. Doch diese von Schmid als Voraussetzung genannte Bereitschaft für ein langes und teures Engagement gibt es nicht. Denn Haiti liegt in der Karibik und nicht, wie Albanien, in unmittelbarer Nachbarschaft zur Europäischen Union.

Als Führungsstaaten einer möglichen Interventionstruppe bieten sich nur Frankreich und die USA an. Die USA, weil sie die Karibik als ihren Hinterhof betrachten und ihre Interessen spätestens dann betroffen sind, wenn sich zehntausende von Haitianern auf Booten und Floßen ins Meer stürzen, um Florida zu erreichen. Frankreich, weil es als ehemalige Kolonialmacht eine besondere moralisch-politische Verpflichtung spüren könnte. Tatsächlich war der französische Außenminister Dominique de Villepin der bislang einzige hochrangige Politiker, der eine Militärintervention vorgeschlagen hat.

Doch Frankreich kann man, wenn es um Haiti geht, nicht über den Weg trauen. Das Land trägt einen guten Teil der Schuld am Chaos in seiner ehemals reichsten Kolonie. Die Haitianer hatten sich am 1. Januar 1804 zwar nach zwölf Jahren Befreiungskrieg die Unabhängigkeit erkämpft. Doch die ehemaligen Kolonialherren drohten so lange mit einer militärischen Intervention, bis sich Haiti die Anerkennung seiner Unabhängigkeit 1825 mit einer Zahlung von 150 Millionen Franc in Gold erkauften. Damals war diese Summe das Zehnfache des jährlichen Bruttoinlandsprodukts von Haiti. Der junge Staat baute seine Unabhängigkeit auf Schulden – und ist bis heute verschuldet.

Präsident Jean-Bertrand Aristide hat im Vorfeld der Feierlichkeiten zum 200. Jahrestag der Unabhängigkeit von Frankreich die Rückzahlung dieses Geldes gefordert. Mit Zins und Zinseszins kam er auf genau 21.685.155.571,48 US-Dollar nach heutigem Wert. Die Summe ist absurd, aber die Forderung prinzipiell berechtigt. Wäre die französische Regierung tatsächlich am Wohlergehen Haitis interessiert, müsste sie zumindest darüber reden.

Die USA haben in Haiti schon mehrfach militärisch interveniert. Zuletzt kamen sie 1994 mit 20.000 Marines, um den drei Jahre zuvor von Militärs gestürzten Aristide wieder ins Amt einzusetzen. Sie wollten damit schlicht den Strom von Bootsflüchtlingen stoppen, den die sich abwechselnden brutalen Militärregimes provoziert hatten. Bis heute sind nicht alle Bedingungen bekannt, die die Regierung in Washington gestellt hatte, bevor sie den vorher als Linken gefürchteten ehemaligen Armenpriester wieder ins höchste Staatsamt hob.

Aristide kam jedenfalls völlig verwandelt zurück aus dem Exil: Er startete ein neoliberales Strukturanpassungsprogramm, ganz nach dem Geschmack von Internationalem Währungsfonds und Weltbank. Die Mehrheit der Bevölkerung wurde dadurch noch ärmer. 85 Prozent leben heute unter der Armutsgrenze. 0,5 Prozent gehören 45 Prozent des Reichtums des Landes. Aristide gehört zu den 0,5 Prozent. Er ist seit seiner Rückkehr vom Linkspopulisten zum Korrupten mutiert. Auch wenn man das den USA nicht anlasten kann, für das Nationbuilding jedenfalls taten auch sie nichts.

Es gibt in Haiti keine Warlords mit politischen Zielen und auch keine Milizen

Wenn also nur die USA und Frankreich, die mit ihrer bisherigen Interventionspolitik gegenüber Haiti eher Unheil angerichtet haben, für ein militärisches Eingreifen in Frage kommen, dann sollte man sie auch jetzt nicht zur Tat ermuntern. Denn nichts deutet darauf hin, dass es diesmal anders sein würde.

So schwer es sein wird: Die Haitianer müssen ihr politisches Chaos selbst in Ordnung bringen. Aristide muss seine Schlägerbanden zurückpfeifen und entwaffnen. Und er muss begreifen, dass er allein noch keinen Staat macht, sondern dass dazu auch noch andere Institutionen wie ein Parlament und eine unabhängige Justiz gehören. Und die politische Opposition muss lernen, dass mit der Parole „Aristide muss weg“ nichts gewonnen wird – selbst wenn sie in Erfüllung geht. Nur wenn sich Aristide und die Opposition zu einer nationalen Regierung zusammenraufen, kann Ordnung ins Chaos von Haiti kommen.

Dann wird sich schnell zeigen, dass die Banden, die derzeit Gonaïves, Haïtien und den Norden des Landes terrorisieren, nicht mehr als ein paar Desperados sind, die in einem auch nur minimal funktionierenden Staat schnell bedeutungslos werden. Der Friedensplan von US-Außenminister Colin Powell weist deshalb in die richtige Richtung: Statt an Interventionen zu denken, sollten die Vereinigten Staaten und die Europäische Union Aristide und die Opposition mit diplomatischen Mitteln an den Verhandlungstisch drängen. Und sie könnten dazu ein Zuckerbrot in Aussicht stellen: Dass die 500 Millionen Dollar Entwicklungshilfe, die seit Jahren auf Eis liegen, ausbezahlt werden, sobald die Chance besteht, dass sie für den Aufbau starker staatlicher Institutionen eingesetzt werden. TONI KEPPELER