Ein Psychiater kämpft gegen die Steinzeit

Weil es in den Niederlanden toleranter zuging, zog der Psychiater Detlef Petry vor 25 Jahren über die Grenze nach Maastricht. Sein Vater war bei der Waffen SS, tat Dienst bei Dachau – für den streitbaren Seelenarzt ist seine Arbeit beim Nachbarn auch deshalb eine Art Wiedergutmachung

Die Niederlande ist für Detlef Petry Heimat geworden, nicht das gelobte Land: Petry streitet mit seinen Fachkollegen gegen die Renaissance der Elektroschocks, kämpft um die Menschenwürde der Kranken, den Trialog zwischen Arzt, Patient und Verwandten. Gerne würde er sich kritisch einmischen in die niederländische Euthanasie-Debatte – doch hier ist die Meinung des Deutschen nicht gefragt

AUS MAASTRICHT LUTZ DEBUS

Vor dem Arztzimmer hält ein hagerer älterer Herr Wache. „Haben Sie ein Euro?“ fragt er. Ich verneine. Er bietet mir ein paar Münzen an. Ich lehne ab. Er legt mir seinen Mantel zu Füßen: „Sie können ihn haben. Es ist aber keine Hakenkreuzbinde daran!“ Der Psychiater, der mir diese Begegnung ermöglicht, bittet mich in sein Zimmer. Freundlich gibt er seinem Patienten zu verstehen, dass wir nicht gestört werden wollen.

Über 25 Jahre schon arbeitet Detlef Petry als Psychiater in dem “Psycho-medisch Streekcentrum Vijverdal“. Der neunstöckige Betonkoloss am Rande von Maastricht wurde 1972 erbaut. Als junger Mann hat sich Petry in eine Holländerin verliebt, sie bald geheiratet. Acht Jahre lebte das Paar in Köln, dann begann Petry, in Maastricht zu arbeiten. Die Urlaubsbekanntschaft war nicht der einzige Grund, als Deutscher in den Niederlanden zu leben, es war der Wunsch nach etwas mehr Toleranz – und vor allem die Suche nach einer humaneren Psychiatrie.

Um dies zu erklären, braucht es einen Zeitsprung. Der Vater von Detlef Petry trat zu Kriegsbeginn als Neunzehnjähriger in die Waffen-SS ein. Er war beteiligt am Überfall auf die Niederlande, auf Belgien und Frankreich. Im Krieg kämpfte er auf dem Balkan und an der Ostfront. Später wurde er Ausbilder in einer Waffenschule der SS in der Nähe von Dachau. Wenn Detlef Petry diesen Ortsnamen erwähnt, dann hält er einen Finger an sein Auge, zieht ihn leicht herunter.

Bis zuletzt, bis zum Tod des Vaters vor gut einem Jahr, haben beide Petrys um die Frage von Schuld und Vergebung gerungen. Vom Vater kamen, besonders während den harten Auseinandersetzungen in den späten Sechziger Jahren, die bekannten Stereotypen: „Wir haben nicht alles gewußt!“ und „Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, wie das damals war!“ Detlef Petry aber belastete die Schuld der Elterngeneration. Während seines Medizinstudiums wurde er mit der damaligen Psychiatrie, mit den großen Bettensälen, Elektroschocks, eisigen Wannenbädern, den ganzen inhumanen Verhältnissen konfrontiert. In alten Akten und neu erschienenen Büchern stieß er auf den Mord an tausenden psychisch Kranken in der Zeit des Faschismus. So reifte sein Entschluß, diese Verhältnisse mit all seiner Kraft verändern zu wollen.

Die niederländische Psychiatrie galt zu jener Zeit als recht human. So erfüllte Detlef Petry nicht nur seiner Frau den Wunsch, wieder in ihre Heimat zu ziehen. Er konnte als Verantwortlicher für die chronisch Kranken gerade denen helfen, die am wenigsten Hilfe bekamen. Eine Art Wiedergutmachung? Petry schließt dies nicht aus.

Die Beziehung zwischen Behandlern und Behandelten war in den Siebzigern in den Niederlanden tatsächlich menschlicher und bunter als in der Bundesrepublik. Hierzulande dominierten noch autoritäre Strukturen, dort eher Freundlichkeit. In beiden Ländern aber herrschte der Glaube, große Probleme mit großen Gebäuden lösen zu können.

Ob nun niederländisch farbenfroh oder deutsch kasernengrau, ein Ghetto bleibt ein Ghetto. In jenen bewegten Jahren wurde dies auf beiden Seiten der Grenze von vielen jungen Kollegen erkannt. Großkrankenhäuser und Heime sollten aufgelöst werden. So arbeitete Petry in einer sozialen Institutionen, die er – in dieser Form jedenfalls – abschaffen wollte. Aber wichtiger als die Veränderung von Strukturen war ihm der Kontakt zu den Menschen.

Über Jahrzehnte begleitet er nun viele sogenannte chronische Patienten, spricht mit ihnen, mit ihren Familien. Arzt, Patient und Familie eignen sich stückchenweise eine in den Krankenhausaufenthalten verloren gegangene Lebensgeschichte wieder an. Und aus einem seltsamen Kauz, einem abstoßend wirkenden Irren, wird ein Mensch, den man versteht und wertschätzt. Von einigen Patienten wird er so ab und zu beinahe liebevoll als ein „Mof“ bezeichnet. Für Petry ist dieses Schimpfwortinzwischen fast zu einem Kosewort geworden. Besonders eindrucksvoll beschreibt dies Petry in seinem Buch „Die Wanderung“, das im vergangenen Jahr im Paranus-Verlag Neumünster erschienen ist.

Die Niederlande ist inzwischen seine Heimat geworden, das gelobte Land ist es für ihn nicht. Manchmal vermisst er hart geführte Diskussionen. Die Menschen sind freundlich zueinander. Kaum ein Disput wird verbittert ausgetragen, wie er es von früher in Deutschland gewöhnt war. So zumindest ist der erste Eindruck. Aber der Mythos der fast endlosen Toleranz hat natürlich auch seine Schwachstellen.

Bei zwei Themen hat sich Petry schon eine sogenannte blutige Nase geholt.

Auf der ganzen Welt, auch in den Niederlanden, gibt es eine Renaissance der Elektroschocks. Moderner heißen sie nun Elektrokrampftherapie und werden inzwischen unter Narkose verabreicht. Die niederländische Fachwelt ist mehrheitlich dafür, Petry ist dagegen. Er glaubt nicht an das therapeutische Wunder aus der Steckdose. In einer Fernsehdiskussion argumentierte er gegen Elektroschocks. Ein Kollege forderte daraufhin seinen Ausschluss aus der niederländischen Psychiatervereinigung. Und der Berufsstand wiederum empfahl Petry, seine Meinung demnächst nicht mehr ganz so öffentlich zu vertreten.

Seitdem Petry in den Niederlanden lebt, verfolgt er auch die Diskussion um die Euthanasie. Für ihn als Deutscher ist schon das Wort verbunden mit der deutschen Vergangenheit. Und er versuchte sich als Deutscher einzumischen in diese Debatte: Die Niederlande hat eines der weitestgehenden Gesetze, das die Tötung auf Verlangen auf der Grundlage der Selbstbestimmung, auch im Rahmen einer vorherigen Erklärung, gestattet. Für Petry persönlich ist es kaum vorstellbar, dass sich die ganze Familie am Bett des Sterbenden versammelt, um anwesend zu sein, wenn die tödliche Injektion verabreicht wird. Er versuchte, eine Gegenmeinung in die Massenmedien zu bringen. Doch niemand wollte den warnenden Rat gerade eines Deutschen drucken oder senden. In den Niederlanden ist Petry zwar inzwischen ein bekannter und anerkannter Verfechter der Rechte psychisch kranker Menschen, der Auflösung der Großkrankenhäuser, des Trialogs zwischen Ärzten, Patienten und deren Angehörigen, zu manchen Themen aber ist seine Meinung nicht gefragt.

Zwischen Vater und Sohn gab es übrigens in den letzten Jahren auch Momente der Annäherung. Als der Vater bei einem Besuch von Detlef Petrys Schwiegereltern von Willy Brandt schwärmte, traute der Sohn seinen Ohren nicht. Wollte sich sein alter Herr nun in ein gutes Licht rücken oder gar seinem Sohn einen Gefallen tun? Auch ertappt sich Petry dabei, manche Eigenschaften seines Vaters bei sich wieder zu entdecken. Der furchtbare Schwur der SS hieß: „Unsere Ehre heißt Treue“. Treu ist Detlef Petry seinen Idealen, auch seinen Patienten, die er über Jahrzehnte „betreut“. „Es kommt natürlich darauf an, welchen Werten man treu ist“, gibt Petry zu bedenken, “aber charakterlich sind wir uns schon ähnlich.“

Zum Abschied stehen wir vor dem riesigen Betonklotz. „In fünf Jahren wird dieses Gebäude abgerissen werden. Dann wohnen alle chronisch Kranken in menschenwürdigen Wohnungen. Dann werde ich auch aufhören, zu arbeiten. Dann bin ich fertig.“ Detlef Petry hat einen Idealismus, der Berge versetzen kann. Das Erbe seines Vaters ist nicht komplett bei ihm angekommen. Seine Ehre heißt Reue.