Zum Füttern verurteilt

Essens Altenheimbewohner sind unzufrieden mit ihrer Ernährung. Völlig zu Unrecht, findet die Stadt. Das sei alles eine Frage des Geschmacks

Nur vier Prozent der Altenheimbewohner in Essenisst selbständig– ein Trend zur Entmündigung

VON MIRIAM BUNJES

Zwei Tage lang bekam eine Bewohnerin des Remscheider Pflegeheims „Stockderstiftung“ nichts zu Trinken, vermutet die Remscheider Staatsanwaltschaft. Sie verdurstete.

Solche Skandale wollte die Stadt Essen gar nicht erst haben. Und nach einer umfangreichen Befragung in den Essener Altenheimen steht für Gesundheitsdezernent Ludger Hinsen jetzt fest: „Die Versorgungssituation in unseren Altenheimen ist gut: Niemand wird hier verhungern oder verdursten.“

Ein ziemlich niedriger Anspruch ans Heimdasein. Dementsprechend unzufrieden sind die Betroffenen: Zwei Drittel aller Heimbewohner beschwerten sich bei dieser Gelegenheit über das Essen und Trinken in ihrer Einrichtung. „Kantinenessen trift eben hin und wieder nicht den allgemeinen Geschmack“, sagt der Gesundheitsdezernent. „Diese Kritik sollte nicht zu ernst genommen werden, weil sie sich nicht auf die Qualität, sondern auf den Geschmack bezieht.“ Und der sei schließlich subjektiv.

Auch Johannes Potgrave, der als Heimaufsichtsleiter für die Studie verantwortlich ist, ist zufrieden: „Alle sind ausreichend mit Nahrung und Flüssigkeit versorgt. Große Skandale wird es in Essen nicht geben.“

Trotz dieser positiven Töne enthält die Essener Studie eine alarmierende Zahl: Nur vier Prozent ihrer Bewohner können selbstständig essen, gaben die Essener Altenheime an. 86 Prozent der Bewohner müssten mit mundgerechten Stücken gefüttert werden, 10 Prozent werden über Sonden ernährt.

Ein deutliches Anzeichen dafür, dass den alten Menschen in Essen das Recht auf Selbstständigkeit abgesprochen wird, findet Hanne Schweitzer vom Büro gegen Altersdiskriminierung. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass tatsächlich so viele Alte nicht mehr eigenständig essen können“, sagt die Aktivistin. „Es spart aber Zeit, den Alten das Essen reinzuschieben, anstatt Rücksicht auf ihre Langsamkeit oder körperlichen und geistigen Einschränkungen zu nehmen.“

Einen Trend zur Unselbstständigkeit von Altenheimbewohner sieht auch der Dortmunder Gerontologe Eckart Schnabel. Und auch er findet die Essener Zahl „extrem hoch.“ Laut einer umfassenden empirischen Untersuchung in nordrhein-westfälischen Altenheimen wurde nur etwa 40 Prozent der Altenheimbewohner das Essen klein geschnitten, 70 Prozent wurden gefüttert. Deutlich weniger als in Essen. „Man sieht aber überall einen wachsende Unselbstständigkeit“, sagt Schnabel.

„Die Ressourcen der alten Menschen werden in der derzeitigen Pflegepraxis nur unzureichend ausgenutzt.“

Es sei zum Beispiel therapeutisch sinnvoll, Menschen, die unter Schwierigkeiten noch selbstständig essen und sich ankleiden können, diese Tätigkeiten auch ausführen zu lassen. „Das trainiert ihre körperlichen und geistigen Fähigkeiten“, sagt Schnabel. „Und macht gleichzeitig ihr Leben lebenswerter.“

Eine solche individuelle Förderung nimmt jedoch mehr Zeit und Aufmerksamkeit in Anspruch, als die meisten Mitarbeiter haben. „Jeder ist im Altersheim für alles zuständig – egal welche Qualifikation er hat“, sagt Eckart Schnabel. „Insofern ist es kein Wunder, dass die Qualität der Pflege nicht gut ist.“

Was die alten Menschen selbst zur Qualitätsdebatte beitragen, interessiert die Stadt Essen höchstens am Rande. Am Geschmack des Heimessens soll sich nichts ändern.