Erfurt, Ende April, vormittags


In dem Kaufhauscafé saß Robert Steinhäuser hinten. Ein guter Platz für einen, der sich verstecken will

aus Erfurt STEFAN KUZMANY

Plötzlich überholt ein junger Mann, läuft voraus, schneidet den Erfurter Domplatz und biegt ein in die Fußgängerzone. Ein unheimliches Déjà-vu: Der junge Mann trägt eine dunkle Kappe, eine schwarze Lederjacke, Jeans, Turnschuhe, erinnert an Robert Steinhäuser, wie man ihn letztes Jahr auf diesen gespenstischen Amateurvideoaufnahmen sehen konnte, die nach seinem Attentat das Fernsehen gezeigt hat. Der junge Mann in Schwarz läuft in die Fußgängerzone, doch er läuft am Kaufhaus Breuninger vorbei, ist nur irgendeiner, der ein Ziel hat, eine Verabredung vielleicht.

Das Kaufhaus Breuninger war das Versteck von Robert Steinhäuser in seinen letzten Monaten. Robert Steinhäuser, der vor einem Jahr und einem Tag 16 Menschen erschossen hat und dann sich selbst. Das war das Ende. Am Anfang stand ein Doppelleben. Denn wie bekannt ist, war der 19-Jährige schon lange vor seinem Attentat kein Schüler mehr am Gutenberg-Gymnasium, hatte Atteste gefälscht, war aufgeflogen, war aufgefordert worden, sich auf einer anderen Schule anzumelden, wenn er sein Abitur doch noch irgendwie erreichen wolle. Er hat das, wie bekannt ist, nicht getan. Stattdessen hat er seinen Eltern über Monate jeden Morgen gesagt, er ginge jetzt zur Schule. Auch das tat er, wie bekannt ist, nicht. Sondern er ging zuletzt jeden Schultag ins Altstadtzentrum von Erfurt, ins Kaufhaus Breuninger, zweite Etage, Marathon Café.

Psychologen, Polizeiexperten und Politiker haben nach der Tat analysiert, untersucht und Forderungen gestellt. Journalisten haben den Lehrer Heise und die Schulleiterin befragt, um Robert Steinhäuser zu verstehen. Trotzdem, man kann nicht wissen, was in ihm vorgegangen ist in der Zeit vor seiner Tat. Gerade weil seine Vormittage wohl sehr schlicht vergangen sind.

Das Kaufhaus Breuninger, Bekleidung für Kinder, Damen und Herren, im Basement Lebensmittel, wird videoüberwacht, so steht es auf einem Schild am Eingang. Zum Marathon Café sind es zwei Rolltreppenfahrten hinauf in die zweite Etage. Zwischen den Treppen hängen Schaufensterpuppen an Trapezen, die Abbilder junger, sportlicher Körper, schöne Frauen im knapp sitzenden Sportdress. Das Café erreicht man durch die Herrenabteilung, an schicken Anzügen von Hugo Boss vorbei, coole Anzüge für richtige Männer mit solider Ausbildung und wichtigen Jobs.

In der Vitrine liegen Pizzazungen und Obstsalat und Kuchen. Der Kaffee kostet einsfünfzig. Auf runden Tischen an der halbrunden Fensterfront stehen giftgrüne Blumenvasen mit künstlichen Blumen darin. Steinhäuser saß hinten. Ein guter Platz für einen, der nicht gesehen werden will. Von draußen nicht einsehbar, und selbst wenn mal jemand auf die Idee kommen sollte, hier einen Kaffee zu trinken, der einen nicht erwischen soll – der müsste schon extra um die Ecke biegen, um den versteckten Gast zu entdecken. Neben Steinhäusers Stammplatz steht eine Säule mit Schild: „Für Ihre Garderobe übernehmen wir keine Haftung“. Über der Theke sind TV-Geräte angebracht, gerade läuft der Musikkanal Viva im Dauerbetrieb. Was kann man hier schon machen, den ganzen Vormittag lang?

Vielleicht die anderen Gäste beobachten und belauschen. Es sind nur kaum welche da. Gerade hat sich eine Mutter mit ihrer Tochter vier Tische weiter vorn hingesetzt. Die Tochter berichtet von einer Party und von einem anderen Gast, der auch dort gewesen ist: „Ein unmöglicher Typ. Wenn ich gewusst hätte, dass der kommt!“ Sie gehen wieder. Was kann man hier schon machen an einem gewöhnlichen Werktag.

Die Fenster zählen vielleicht. Es sind 21 Fenster von Steinhäusers Stammplatz aus zu sehen, abgeteilt durch Stahlträger, 43 Lamellen halten die Sonne draußen. 43 Lamellen mal 21 Fenster, das macht 903 Lamellen. Und nach draußen sehen. Draußen fährt die Straßenbahn über die Schlösserstraße, „Fensterplätze für Erfurt“ steht auf ihrer Seite, eine Brücke ist zu sehen und auch, wer über diese Brücke flaniert, und wenn es ein schöner Tag ist wie eben jetzt, Ende April, dann sind das viele, sitzen auf, lehnen an der Brückenmauer, die Entspannten, die pausierenden Flaneure rauchen, quatschen, flirten.

Um die Ecke, direkt unter Steinhäusers Stammplatz, lagern jene im Schatten, die nicht mehr verstecken müssen, dass sie den ganzen Vormittag nichts zu tun haben und den Nachmittag auch nicht: fünf abgerissene Gestalten, ein Hund döst, Bierflaschen werden ausgepackt, geöffnet, geleert.

Es sind 31 Pflastersteine vom Mauerrand bis zu den Straßenbahnschienen und 121 Reihen von Pflastersteinen vom gegenüberliegenden Ende der Brücke bis zu dem hübschen blonden Mädchen da unten an der Mauer, das wohl gerade eine SMS tippt. 31 Steine mal 121 Reihen, das macht 3.751 Pflastersteine.

Gegen Mittag kommen einige Verkäuferinnen in den hinteren Teil des Marathon Café, entziehen sich so dem Gesichtsfeld ihrer Kunden und Vorgesetzten, rauchen, tratschen über einen aufdringlichen Kollegen: „Wer nicht bei drei auf den Bäumen ist, der ist vor dem nicht sicher“, sagt die eine, die anderen lachen. Draußen fährt ein Smart der Stadtverwaltung Erfurt vorbei. „Wir sind für Sie da“, steht auf seiner Seitentür. Es sieht so aus, als sei er auf Patrouille.

Es wird 13 Uhr. Die Schule ist aus. Vier Tassen Kaffee im Marathon, das macht sechs Euro. 13 Uhr, das heißt, Steinhäuser konnte sich in der Stadt wieder blicken lassen, konnte nach Hause gehen zu den Eltern in die Ottostraße, ohne sich unangenehme Fragen stellen lassen zu müssen.

Morgen vor einem Jahr hat sich Robert Steinhäuser zum letzten Mal auf seinen alten Schulweg gemacht.

Halb zehn Uhr an einem Vormittag im späten April. Es ist still in der Ottostraße. Gerade hat ein junger Mann eine alte Dame in einen roten Volkswagen bugsiert, sie sind abgefahren, jetzt ist es wieder ganz still. Die blauen Papiertonnen stehen zur Abholung bereit und auch die für den Biomüll.

Sein Schulweg: die Ottostraße hinunter Richtung Osten. Vorbei an einem Zaun, hinter dem gelbe Märzenbecher blühen. An ihrem Ende, gegenüber, steht ein Ärztehaus. Gerade kreuzt die Straßenbahn der Linie 4 den Weg. Endstation: Hauptfriedhof.

Links, die Rudolfstraße hoch. Ein Rentnerpaar radelt vorbei, in einem Hauseingang links lehnt ein himmelblaues Fahrrad, auf das jemand kleine weiße Wolken getupft hat. Rechts: das Justizzentrum von Erfurt. Auf den Stufen davor sonnt sich ein Punk.

Am Justizzentrum vorbei. Eine füllige Frau mit schwarzen Haaren und roter Jacke führt ihren jungen Schäferhund aus. Eigentlich führt er sie aus, so stark zerrt er an der Leine.

Hugo-Preuß-Platz. Hugo Preuß, geboren 1860, Staatsrechtler, Abgeordneter, Republikaner, gestorben 1925. Rechts steht das Bundesarbeitsgericht, ein blau-grauer Kasten aus Beton mit künstlichem See davor und Bänken, auf denen niemand sitzt. Tschip-tschip-tschip macht der Rasensprenger. Es ist schon recht warm Ende April, das Gras braucht Wasser. Gegenüber dem Arbeitsgericht steht ein marodes, mit Graffiti übersätes Wartungshäuschen für die Trambahn. Gerade fährt da wieder die Linie 4 vorbei, Endstation Hauptfriedhof.

Zwei alte Frauen kommen auf dem Trottoir entgegen. „Es ist eine Schande“, sagt die eine, die andere murmelt Zustimmung. Was eine Schande sei, das ist nicht zu hören. Aus dem Bundesarbeitsgericht kommt ein Mann mit dicker Aktentasche und weißer Krawatte, ein Anwalt vielleicht oder ein Richter. Er muss aufpassen, dass ihn das Wasser des Rasensprengers nicht erwischt.

Auf der Straße ginge es jetzt links, einem blauen Schild zufolge, zur Autobahn 71. Auf einem Schild darunter steht „Alle Richtungen“, auf einem weiteren ist ein Flugzeug abgebildet. Zur Schule aber geht es nach rechts. Und gleich wieder links in die Stolzestraße. Eine Kindergartengruppe überquert die Straße, immer zwei und zwei, „wer drüben ist, stellt sich hinter Annika auf“, sagt die Kindergärtnerin, und Annika steht schon drüben und ist stolz, dass sich die anderen hinter ihr aufstellen müssen.

„Einen schönen Tag“ wünscht die Nachbarin dem Nachbarn, und der kommt gleich näher und will wissen, was es denn da aufzuschreiben gibt, die Hausnummern etwa? Ach so, eine Geschichte über die Gegend, dann passen Sie mal auf, links hier, das sind lauter Genossenschaftsbauten, und rechts, das ist Privatbesitz, eine ruhige Gegend und sehr schön, oder? Eine beliebte Gegend auch, wenn Sie hierher ziehen wollen, werden Sie keine freie Wohnung finden, sagt er und verschwindet in einem Haus auf der rechten Seite, Privatbesitz.

Weiter die Stolzestraße hinauf Richtung Norden, an einem kleinen Jägerzaun vorbei, dann abbiegen nach rechts in die Pestalozzistraße. Links hat der Rewe-Flachbau von 7 Uhr bis 20 Uhr für Sie geöffnet. Von hier kann man die Schule schon sehen. Das Gutenberg-Gymnasium, seine Schule, nach dem Attentat mehr denn je. Sie sieht aus wie ein Schloss, mit Seitenflügeln und Erkern.

Er näherte sich von hinten, vorbei am schuleigenen Grüngelände. Das Gutenberg-Gymnasium wollte ihn nicht mehr haben. Er hat sich trotzdem Zutritt verschafft.

Seit Robert Steinhäuser das letzte Mal in dem Gymnasium gewesen ist, sind die Türen verschlossen. Es wird jetzt bewacht von der „Condor Schutz- und Sicherheitsdienst GmbH“.