„Blanker Kadavergehorsam“


Frank Schwabe redet, als sei die Vertrauensfrage schon gestellt und der Kanzler schon gescheitertParteispitze und Basis sind „wie zwei Züge, die mit Volldampf aufeinander zufahren“

aus Castrop-RauxelBARBARA BOLLWAHN DE PAEZ CASANOVA

Beige Hose und beiges Jackett. Dazu ein dunkelblaues Hemd und weinrote Schuhe mit Steppnähten. Die dunkelblonden Haare ordentlich gescheitelt, das Lächeln schüchtern nett. Das ist Frank Schwabe, 32 Jahre. Bis vor wenigen Tagen war er „nur“ Vorsitzender des 1.800 Mitglieder zählenden SPD-Stadtverbandes von Castrop-Rauxel im östlichen Ruhrgebiet und kümmerte sich um Stadt- und Regionalentwicklung für die knapp 80.000 Einwohner. Doch jetzt treibt der Mann mit dem jungenhaften Gesicht aus dem Landkreis Recklinghausen der Parteispitze in Berlin die Zornesröte ins Gesicht.

Persönlich kennen ihn weder Bundeskanzler Gerhard Schröder noch Fraktionschef Franz Müntefering oder Generalsekretär Olaf Scholz. Doch sie glauben zu wissen, was er ist: ein Verräter, ein Intrigant, ein Königsmörder. Denn Schwabe gehört zu den Initiatoren des in der bisherigen SPD-Geschichte einmaligen Mitgliederbegehrens „Wir sind die Partei“. Damit ist er neben Bundes- und Landtagsabgeordneten, Kreis- und Betriebsräten einer der Aufmüpfigen, die mehr Mitsprache bei den Plänen der „Reformagenda 2010“ fordern. Also einer von den bösen Buben, die die Regierungsfähigkeit gefährden, indem sie den Kanzler und Parteivorsitzenden unter Druck setzen.

Zu dieser Konstellation passt der etwa 50 Kilometer von Castrop-Rauxel entfernte Gasometer in Oberhausen wie die rote Nelke zum 1. Mai: In dem 117 Meter hohen Turm setzte bis zur Stilllegung vor 15 Jahren eine riesige Betonplatte Gas unter großen Druck. Er steht auf der ehemaligen Hütte „Gute Hoffnung“, und Schwabe, der in Essen Geschichte, Politologie und Soziologie studiert, arbeitet manchmal als Führer in dem Gasometer, wo es Ausstellungen wie „Feuer und Flamme“ und „Ich Phönix“ gab. Hier illustriert er seine Forderungen und Standpunkte: „Etwas verändern und die Wurzeln klar machen, ohne sich zu verleugnen“. Und: „Ich will mich eigenständig entwickeln und nicht, dass mir jemand eine Richtung vorgibt.“

Schwabe, der vor zwölf Jahren bei den Jusos anfing, seit zwei Jahren im Bundesparteirat sitzt und im vergangenen Jahr mit großer Mehrheit zum Stadtverbandsvorsitzenden gewählt wurde, fühlt sich in der Pflicht. „Es geht ums Eingemachte. Die Basis ist verärgert, und die Parteispitze muss überlegen, wie es weitergeht nach Schröder.“ Nach Schröder? „Er wird mal aufhören mit der Politik, und dann?“, fragt er zurück. Schwabe redet, als sei die Vertrauensfrage schon gestellt, der Kanzler schon gescheitert. „Es gibt junge Leute zwischen 30 und 45, die müssen überlegen, was wir mit der Partei machen wollen“, sagt er mit Nachdruck und ergänzt weniger vehement: „Dazu zähle ich mich schon.“

Ein Selbstdarsteller ist Schwabe nicht. Auch keiner, der mit der Faust auf den Tisch haut. Unaufgeregt spricht er von der „Beschäftigung mit der gesellschaftlichen Realität“, vom Gefühl der Entfremdung von der Partei. Einen Showdown will er nicht, sondern einen „Klärungsprozess“, Debatten statt Fahnenschwenken. Immer wieder bemüht er das Wort Dialog und Sätze wie „Wir müssen die Leute mitnehmen“. Das klingt nicht nach Aufbruch, eher nach Betriebsausflug. Auch seine Definition von sozialdemokratisch hört sich nicht wegweisend an: „Man muss den Menschen das Gefühl geben, an fundamentalen Grundsätzen rütteln wir nicht.“ Zumutungen dürfe es nur bei denen geben, bei denen es was zu holen gibt.

Bei der Asylrechtsänderung hat Schwabe über Austritt nachgedacht, beim Lauschangriff gelitten, und jetzt reicht es ihm. Er will keiner von denen sein, „die ihr ganzes Leben die Schnauze halten und mitschwimmen“. Deshalb legt er sich auch mit dem Bundestagsabgeordneten Jochen Welt an, der wie Harald Schartau, Chef der NRW-SPD, des mitgliederstärksten Landesverbandes, Schröders Kurs unterstützt. In dessen Wahlkreisbüro arbeitet er als Mitarbeiter. Die Unterstützung für das Mitgliederbegehren bleibt nicht ohne Folgen. Doch Jochen Welt will Geschlossenheit demonstrieren und beschreibt das Verhältnis zu Schwabe diplomatisch: „Der eine sieht noch nicht alles, der andere nicht mehr alles.“

Strebt Schwabe nach höheren Ämtern? Er überlegt und sagt: „Der Kanzler ist ein guter Kanzler. Auch als Parteivorsitzender ist er keine Katastrophe. Aber er versteht Politk nicht so, dass man die Partei weiterentwickeln müsste.“ Profilieren wolle er sich nicht. Als die Parteispitze von Dilettantismus sprach, fühlte er sich getroffen. „Was die vorher gemacht haben – war das nicht auch dilettantisch?“, fragt er. „Man muss es schon weit treiben, wenn der Laden nicht mehr mitmarschiert.“

Schwabe scherte aus und bekam die Konsequenzen zu spüren. Über Ostern hat der Vorstand die zehn Stadtverbände des Unterbezirks Recklinghausen zu einer außerordentlichen Vorstandssitzung geladen. Just für den kommenden Montag, an dem die erste der vier SPD-Regionalkonferenzen stattfindet. Kein Zufall. „Da sollen jetzt Brandherde begrenzt werden.“ Mit einem Grinsen gibt er zu verstehen, dass er nicht als Feuerlöscher zur Verfügung stehen wird.

Sabine Seibel ist Schwabes Stellvertreterin, Mitglied des Kreistages Recklinghausen, angestellt beim SPD-Landesverband Nordrhein-Westfalen und sehr gut mit Schwabe befreundet. Als sie Juso-Vorsitzende in Castrop-Rauxel war, war er ihr Stellvertreter. Nun ist es im Stadtverband umgekehrt. Einige Jahre waren sie ein Paar, und politisch haben sie sich immer „irgendwo getroffen“. Bei dem Mitgliederbegehren ist das plötzlich anders. Die lebhafte 37-Jährige mit den blondierten Haaren, die Lippenstift, Fingernägel und Weste in Violett trägt, wird auf keinen Fall unterschreiben.

Mit Parteidisziplin hat das bei ihr nichts zu tun. Sie will nur nicht, dass der Kanzler und Parteivorsitzende „systematisch demontiert wird“. Auch wenn sie „nie Schröder-Fan“ war und überzeugt ist, dass Lafontaine die Kritik der Partei hätte „bündeln“ können. Doch was zur Zeit in ihrer Partei passiert, macht sie fassungslos. „Mitglieder, die zu lange geschwiegen haben, fühlen sich auf einmal aufgefordert, sich auszukotzen und den Kanzler verbal hinzurichten.“ Mit jedem Satz gerät sie mehr in Fahrt. „Auf der Enterprise würde ich denken, ich befände mich in einem Paralleluniversum.“ Aber doch nicht in Recklinghausen. „Hier schlägt doch das sozialdemokratische Herz!“

Inhaltlich gibt sie Frank Schwabe Recht. „Harte Reformen“ müssten nicht mit großem Hallo begrüßt, sondern „hart begleitet“ werden. Doch nicht mit einer „Massenhysterie“, wie sie sie jetzt beobachtet. „Im Moment redet sich die Partei selbst kaputt.“ Das Verhältnis zwischen Parteispitze und Basis beschreibt sie als „zwei Züge, die mit Volldampf aufeinander zufahren“. Den Initiatoren des Mitgliederbegehrens wirft Seibel vor, nicht zu wissen, wo sie ankommen wollen, und eine „völlige Eskalation“ in Kauf zu nehmen. Deshalb will sie die Notbremse ziehen, indem sie auf die Regionalkonferenzen setzt, und hofft, dass dort ein Konsens gefunden wird.

Seibel würde selbst in der SPD bleiben, wenn sie FDP-Größe hätte. Ihr Großvater habe sie „sehr geprägt“. Die Großmutter war bis zur Seniorengruppe in der Partei aktiv. Ihre Mutter las ihr beim Zubettgehen Willy-Brandt-Reden vor. Mit 20 Jahren ist sie in die Partei eingetreten. An einem 1. Mai, begeistert von einer Rede von Willy Brandt in einer Gesamtschule in Bochum. In ihrer Familie hat sie erlebt, wie unterschiedliche Strömungen in der Partei unter einen Hut zu kriegen sind. Vor einigen Jahren besuchte sie mit ihrem in der Zwischenzeit gestorbenen Großvater und ihrer Mutter ein Seminar der Friedrich-Ebert-Stiftung über Möglichkeiten der Energiegewinnung. Der Opa stand für Kohle, die Mutter für Atom und sie für regenerative Energie. Herausgekommen sei statt einer zerstrittenen Familie ein Energiekompromiss.

Udo Behrenspöhler sitzt im Betriebsratsbüro vom Opel-Werk II in Bochum, vor sich einen handgeschriebenen Zettel mit Stichpunkten. Sie zeigen die Zerrissenheit des 57-Jährigen, der seit 34 Jahren in der SPD und seit neun Jahren im Betriebsrat ist. „Soziale Gerechtigkeit“, steht da, „Rückblick auf den 22.09.02“, „Nicht Regierung handlungsunfähig machen“, „Parteispitze gibt die Richtung vor“, „Blanker Kadavergehorsam“. Der Bauschlosser vom Ortsverein Obercastrop wird das Mitgliederbegehren unterschreiben. Nicht, weil er gegen den Kanzler wäre, sondern weil er will, dass „Schröder mit seiner Mannschaft“ weiter die Regierung stellt, dass die sozialdemokratischen Grundsätze nicht aufgegeben werden. Der Grund: „Eine Ablösung der Regierung würde einen Neoliberalismus à la Westerwelle und Merz bringen.“

Udo Behrenspöhler weiß, dass das Mitgliederbegehren „kein leichtes Unterfangen“ für Schröder ist. Doch auch ihm fällt es schwer, „gegen die Parteispitze aufzustehen“ und weiterhin Mitglieder zu werben. Aber er tut beides. „Weil es zwingend erforderlich ist.“ Weil er für Reformen und gegen Sozialabbau ist. Weil 70.000 Unterschriften der knapp 690.000 SPD-Mitglieder die Genossen in Berlin vielleicht „wieder auf den Weg der Tugend“ bringen.