Stachs Traum von Kafkas Sein

Munter fabuliert, wenn auch von manchmal unklarer Perspektive: Der Literaturwissenschaftler Reiner Stach liest im Literaturhaus aus dem ersten Band seiner Kafka-Biographie „Die Jahre der Entscheidungen“

Wer Sigrid Löffler live erleben möchte, hat einen guten Grund, zu Reiner Stachs Lesung zu gehen. Wer den Schriftsteller und Versicherungsbeamten Franz Kafka kennen lernen möchte, nicht. Denn Stachs Kafka-Biographie textet zu und wertet naiv drauf los. Zum Beispiel: „Es kam vor, dass man ihn, den promovierten Beamten, für einen Schüler hielt. Das war komisch, aber es war auch widernatürlich. Ein Junggeselle in Gestalt eines Kindes: ein soziales Monster.“

Als „widernatürlich“ soll Kafka sich selbst bezeichnet haben, so der Biograph im nachträglichen Interview. Nur: Die Quellenangabe hat Stach vergessen – oder ist es vielleicht doch seine persönliche Einschätzung von des Dichters äußerer Erscheinung? Munter fabuliert Stach weiter, nennt die 16-jährige Margarethe Kirchner ein „unfertiges Mädchen“, weil ihm die Bezeichnung „pubertär“ als „zu belangslos erschienen wäre“. Der Literaturwissenschaftler beweist damit mehr als seinen Kenntnisreichtum der reichhaltigen Kafkafakten, vor allem seine, höchst subjektive, klare Vorstellungen davon, was „natürlich“ und was ein „fertiges Mädchen“ sei, an denen er Kafka und sein Umfeld misst.

Stach greift als Primärquelle auf Kafkas Briefe an seine Geliebte Felice Bauer zurück. In den Jahren 1910 bis 1915, über die Stach schreibt, hat Kafka ihr oft täglich mehrere geschrieben. Viel Alltag darin, „weil Bauer ihn ja nicht kannte“. Und das „mit sprachlicher Perfektion, nie ein Durchhänger“, freut sich der Biograph. Über rund 600 Seiten ist man Stachs interpretierendem Stil ausgesetzt, der floskelhafte Superlative aneinander reiht: „Eine Eruption, die in der Weltliteratur ihresgleichen sucht“, „der reine Strahl der Erkenntnis“, „das war nun wahrer als je zuvor“, was immer das heißen soll.

Dazwischen streut er ein paar Allgemeinplätze aus der Küchenpsychologie, etwa über den „latenten Exhibitionismus, der wie bei allen hypochondrischen Menschen auch bei Kafka gelegentlich befremdet“. Mit seiner Biographie wollte Stach „gegen die etablierte Meinung anschreiben, Kafka habe Spleens, beispielsweise den Vegetarismus und die Askese. Das waren keine Spleens, das waren damals Massenbewegungen.“ Trotzdem steht im Buch, dass Kafka „eben auch die Gesundheit übertrieb, wie alles“. Unklar, ob Stach seine eigene Meinung kundtut oder die Perspektive von Kafkas Eltern einnimmt. Stachs Werk ist der erste umfassende biographische Versuch über Kafkas „Jahre der Entscheidungen“, wie der Autor sie nennt.

Stach plant noch zwei weitere Bände, einen über den früheren, den anderen über den späteren Kafka. Aus diesem Grunde, so der Biograph, „schreibe ich in dem vorliegenden Band nichts über die literatischen Vorbilder Kafkas, ich schildere darin nicht die Bildungsszenerie Prags, das, was man damals gelesen und geschrieben hat“. So weit so unklar. Es gibt also sehr viele Fragen, die man dem Biographen am kommenden Dienstag stellen kann.

KATRIN JÄGER

Dienstag, 20 Uhr, LiteraturhausReiner Stach: Kafka. Die Jahre der Entscheidungen, S. Fischer 2002, 640 S., 29,90 Euro