Charmante Killer

Mit einer skurrilen Psycho-Checkliste sollten Lehrer in Oberbayern Amoktendenzen unter Schülern aufdecken

MÜNCHEN taz ■ Kann man Amokläufe vorhersehen? Knapp ein Jahr nach dem Schulmassaker von Erfurt wollte anscheinend der „Arbeitskreis Schule und Polizei“ praktische Hilfe geben. Oberbayerische Schulleiter hatten den Kreis gemeinsam mit Vertretern von Staatsanwaltschaft, Amtsgericht und Polizei im Raum Bad Aibling und Rosenheim gegründet. Sie stellten eine Materialsammlung für Lehrer zusammen, zu der eine „Psychopathie-Checkliste“ gehört, die der US-Psychologe Robert Hare in den 70er-Jahren entwickelte.

Anhand von 19 Kriterien sollen dort „potenziell gefährliche Gewalttäter“ mit Merkmalen eines „ausgeprägten Psychopathen“ erkannt werden. Verdächtig ist demnach, wer etwa „kein Schuldgefühl“ zeigt, ein „pathologischer Lügner“ ist, über „wenig Verhaltenskontrolle“ und „große kriminelle Energie“ verfügt – aber auch „oberflächlicher Charme“, „promiskuitives Sexualverhalten“, „viele Kurzzeit-Beziehungen“ und „keine langfristigen Lebensziele“ sind Indizien. In der Wissenschaft ist die Liste wegen Oberflächlichkeit umstritten und für 15-Jährige weder vorgesehen noch geeignet.

Selbst Kultusministerin Monika Hohlmeier (CSU) erklärte vor wenigen Tagen, die Checkliste sei „nicht hilfreich“, behauptete aber, das Papier sei nur im Raum Rosenheim verbreitet worden und nicht zur Anwendung gekommen. Tatsächlich aber liegt die „Psychopathie-Checkliste“ seit drei Monaten als Arbeitsmaterial an jeder Schule in Oberbayern vor. Das ergaben Recherchen der bündnisgrünen Landtagsfraktion. Demnach übernahm die Bezirksregierung das ursprünglich nur für zwei Orte gedachte Material und legte es samt Empfehlungsschreiben „für die beispielhaften praktikablen Anregungen“ dem Oberbayerischen Schulanzeiger vom 7. Januar 2003 bei, den alle Schulen des Bezirks beziehen. Die grüne Fraktionsvorsitzende im Landtag, Christine Stahl, war entsetzt: Die Liste stelle Schüler „geradezu unter Generalverdacht“.

Kurt Lausmann, der Leiter eines Gymnasiums in Bad Aibling, bestätigte der taz: Zwar habe man nicht die komplette Liste verwandt, Teile davon seien jedoch in ein neues Sicherheitskonzept aufgenommen worden, das zugleich als Leitfaden für Gewaltprävention dient.

Das Konzept wird wohl bald im Giftschrank landen, denn im Kultusministerium zeigt man sich mittlerweile ziemlich entgeistert über die Empfehlung der Bezirksregierung. So erklärte jetzt eine Sprecherin des Ministeriums, in einem Schreiben würden sämtliche Schulen in Oberbayern aufgefordert, die Checkliste nicht mehr zu verwenden. Dass so mancher Lehrer die 19 Kriterien für Psychopathen jetzt im Hinterkopf gespeichert hat, lässt sich dagegen nicht ausschließen.

JÖRG SCHALLENBERG

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