Versammlung im Dunkeln

„Hier, dieses italienische Volkslied sang Gramsci gern. Übersetzt bedeutet das: Das Leben ist ein Traum, es ist kurz, wir müssen alle sterben. Singen Sie mal mit“, fordert Schauspieler Samuel Finzi das Kampnagel-Publikum auf. Schweigen, dann leiser Gesang. Das ist der Kammerchor; die SängerInnen haben sich unters Publikum gemischt. Gemeinsam pilgern die Zuschauer des Gramsci-Projekts Ich umarme Dich dann in die nächste Halle, wo das Licht erlischt und wieder der Choral erklingt.

Plötzlich richtet sich ein Scheinwerfer auf die Versammlung. Man steht im Gefängnis, in der gleichen Halle wie zuvor, nur kälter scheint es. Hier saß Gramsci mehr als zehn Jahre, Mussolini hatte ihn einlochen lassen, 1926. Zwanzig Jahre hatte der kommunistische Philosoph bekommen, „zwanzig Jahre müssen wir verhindern, dass dieses Gehirn funktioniert“, so die Urteilsbegründung. Doch Gramsci schrieb weiter, bis er 1937 starb.

Doch seine Gefängnishefte sind keine kommunistischen Programmschriften. Gramsci fordert darin Verständigung, Solidarität von Kirche und Kommunistischer Partei. Eine friedliebende Solidargemeinschaft. In ihrem Gramsci Projekt, präsentiert im Rahmen der Reihe „feuer + flamme“, gelingt es den Regisseuren Christoph Grothaus und Wolfgang Siuda, diese These zu beleben, indem das Publikumin eine weitere Halle geführt wird, in der kleine Mädchen auf chinesisch „Der Plumpsack geht um“ spielen. In Briefen an seine Frau Giulia Schucht formulierte Gramsci die Sehnsucht nach unverstelltem Kinderdasein, konkret nach seinen Söhnen Delio und Giuliano. Sie leben mit der Mutter in Moskau, die Familie besucht Gramsci nie.

Vorwürfe, Sehnsucht, Leid und Liebe klingen aus den privaten Briefen, die Samuel Finzi und sein Schauspielerkollege Magne-Håvard Brekke lesen. Doch in Wirklichkeit antwortete Giulia in rund achtzig Briefen. Die Inszenierung gönnt ihr keine Stimme. Das ist der einzige Blindspot des Gramsci-Projekts. Katrin Jäger