Generation 500

Valerio Aiollis Kindheitsroman „Ich und mein Bruder“

Wie heißt die Generation Golf in Italien? Generatione Uno? Generatione Panda? Valerio Aiolli ist Jahrgang 1961, gehört also noch eher der Generatione Cinquecento an. Die Mutter des kleinen Helden in „Ich und mein Bruder“ jedenfalls fährt einen Fiat 500. Der nimmt sich neben dem schicken Alfa Romeo Duetto von Mamas Liebhaber mickrig aus, „wie wenn Papa mitten auf der Diele einen Pantoffel mit trockenen Spritzern von Rasierschaum zurücklässt.“

Der erste Roman von Valerio Aiolli, der bei seinem Erscheinen in Italien 1999 prompt mit dem Premio Fiesole ausgezeichnet wurde, nennt die Insignien einer italienischen Kindheit in den Sechzigerjahren beim Markennamen: Alfa und NSU-Prinz, die Fernsehmaus Topo Gigio und die Fleischkonserven von Simmenthal, Coca-Cola für die Kleinen und Muratti Ambassador für die Großen. Mit der gleichen Ehrfurcht, mit der die Männer vor dem Radio das Fußballduell Lazio–Juventus verfolgen, betrachtet das Kind die Dinge des alltäglichen Lebens. Dass die Ehe seiner Eltern in die Brüche geht, registriert es ebenso aufmerksam wie die Lippenstiftfarbe seiner Lehrerin. Selbst wenn mitten im schönsten Ehekrach die Auflaufform mit den Artischocken zu Boden fällt, nimmt der Junge noch die leisen Zwischentönen wahr: „Man hört keinen großen Knall, nur knack.“

Von einer „Sternstunde der neuen italienischen Erzählkunst“ spricht Antonio Tabucchi angesichts der schlichten, wortkargen Prosa Aiollis. Aus der Perspektive eines Fünfjährigen schildert der Florentiner, wie eine scheinbar heile Welt auseinander bricht, nicht mit einem Knall, sondern mit einem leisen Knacken.

Seine Beschreibungen des Kindergartenalltags, des Sommerurlaubs bei den Großeltern und der Weihnachtsfeier bei Tante Augusta fallen ebenso knapp wie lakonisch aus: „Tante Augusta hat aufgehört, die Blumen von einer Vase in die andere und die Vasen von einem Tischchen auf das andere zu stellen, der Fernseher wurde ausgeschaltet, weil die Messe zu Ende ist, und der Backofen wurde ausgeschaltet, weil der Braten fertig ist.“ Mit feinem Gespür für Nuancen bemerkt der Junge die Risse, die sich auch im Zuge der 68er-Revolution hinter der mühsam aufrecht erhaltenen Fassade intakten Familienlebens auftun. Plötzlich ist Nonno Alvise verschwunden, alle haben Tränen in den Augen und der Freund der Tante trägt die Haare lang. Plötzlich wohnt Papa woanders, Mama besucht den Mann in der Villa mit Swimmingpool und raucht wieder mehr Zigaretten.

Seine nach außen hin kaum spürbare Verstörung über den Tod des Großvaters, die ständigen Streitereien der Eltern und den Auszug des Vaters teilt das Kind der hermetisch abgeschlossenen Erwachsenenwelt nicht mit. Nur im Zwiegespräch mit dem im Babyalter verstorbenen Bruder, das mit der größten Selbstverständlichkeit in die Handlung eingebaut wird, findet es eine Sprache für seine Ängste und Fragen. Auf leichte, bei aller Traurigkeit höchst amüsante Weise zeigt Aiollis Roman, dass Kinder und Erwachsene verschiedenen Gattungen angehören.

MARION LÜHE

Valerio Aiolli: „Ich und mein Bruder“. Aus dem Italienischen von Angelika Beck. Reclam Verlag, Leipzig 2003, 160 Seiten, 8,90 Euro