In Zukunft bistabil oder halb-halb

„Deutsch-Sein“ ist für Konservative nicht nur eine Frage der Staatsbürgerschaft, sondern eine ethnische Kategorie. Dass diese Haltung weltfremd ist, führen drei neue Studien detailliert vor

von MARK TERKESSIDlS

Wenn man die doppelte Staatsangehörigkeit einführte, würde das für Deutschland größere Sicherheitsprobleme mit sich bringen als der Terrorismus der Siebzigerjahre. Mit diesem Bonmot bleibt uns Edmund Stoiber sicher unvergesslich. Angehörigkeit, Zugehörigkeit, Verbundenheit – all das darf man hierzulande eben auf gar keinen Fall mehrfach haben. In Deutschland muss ein Mensch entweder eindeutig „deutsch“ oder eindeutig „ausländisch“ sein. Alles andere führt angeblich zu mangelnder Authentizität, schrecklicher Zerrissenheit und unlösbaren Loyalitätskonflikten.

Wie sehr dieses Denken verbreitet ist, das zeigen zwei Untersuchungen, die aus unterschiedlicher Perspektive um das Thema Zugehörigkeit in der Bundesrepublik kreisen. Talkshows hat sich die Medienwissenschaftlerin Tanja Thomas in ihren Buch „Deutsch-Stunden“ vorgenommen. Sie wollte herausfinden, wie „Deutsch-Sein“ im täglichen Redemarathon des Fernsehens dargestellt wird. Der Psychologe Paul Mecheril wiederum hat sich des Deutschen von der anderen Seite her angenommen. Mit Hilfe der ausführlichen Analyse von zwei umfangreichen Interviews mit Bürgern nichtdeutscher Herkunft geht er in seiner Studie „Prekäre Verhältnisse“ der Frage nach: Welche Wirkung hat diese Ausschließlichkeit des „Deutsch-Seins“ auf Menschen, die scheinbar nicht dazugehören.

Tanja Thomas gebührt zunächst ein Lob, weil sie sich in Gefilde begeben hat, vor denen die erhabene deutsche Forschergemeinschaft gewöhnlich angewidert zurückschreckt. In ihrem Buch geht es um die Untiefen der Unterhaltungsindustrie, die Welt von „Bärbel Schäfer“, „Sabine Christiansen“, „Nachtcafé“ oder „Jürgen Fliege“. Als Material dienten Sendungen, die im Rahmen der Debatte um die doppelte Staatsbürgerschaft ausgestrahlt wurden; Sendungen, die Titel trugen wie „Fremd im eigenen Land“, „Typisch deutsch“ oder auch „Du bist Türke und deutscher als die Deutschen“. Bärbel Schäfer etwa brachte ihre Gäste gleich mit der ersten Frage in Zugzwang: „Was bist du eigentlich?“ Ausweichen ist auf solche Fragen nicht erlaubt, ansonsten wird gebohrt: „Fühlst du dich als Türke oder als Deutscher?“ Zufrieden sind Moderatoren eigentlich nur dann, wenn das Bekenntnis eindeutig ausfällt.

Deutscher als die Deutschen zu sein allerdings will den Personen türkischer Herkunft partout nicht gelingen. Denn sogar, wenn sie noch so vehement auf ihrem „Deutsch-Sein“ bestehen, bleiben sie weiter unter Legitimationsdruck. In der Sendung „Streit im Schloss“ erzählte der Gast Bülent Arslan, dass er deutscher Staatsangehöriger geworden sei. „Nachdem der Gast seinen türkischen Pass abgegeben hat“, schreibt Thomas, „stellt die Moderatorin fest: ‚Sie sind jetzt kein Türke mehr.‘ Die Ratifizierung des Umkehrschlusses allerdings, und das ist bemerkenswert, nimmt sie nicht vor: Bülent Arslan hat jetzt einen deutschen Pass, sie könnte ihn als Deutschen bezeichnen. Stattdessen fragt sie: ‚Was sind sie denn jetzt?‘ “ Fazit: Von den „Ausländern“ wird eine eindeutige nationale Selbstkategorisierung erwartet; wenn aber „Ausländer“ Deutsche werden und sich als solche bezeichnen, gelten sie dennoch als irgendwie seltsam, als undefinierbar.

Die Untersuchung von Tanja Thomas ist eine fabelhafte Ergänzung zu der vor zwei Jahren erschienenen Studie des Ethnologen Jens Schneider über „Deutsch-Sein“. In beiden Arbeiten findet sich im Grunde alles, was man als Mensch nichtdeutscher Herkunft schon am eigenen Leibe erfahren hat. Aber es ist ausgezeichnet, dass man nun konkret nachlesen kann, wie diese Mentalität funktioniert, die weiterhin „Deutsch-Sein“ nicht als staatsbürgerliche, sondern als ethnische Kategorie versteht.

Paul Mecheril tut sich seit einigen Jahren dadurch hervor, dass er die Wirkung solcher Auffassungen auf jene Menschen beschreibt, die er als „Andere Deutsche“ bezeichnet. In seiner Studie „Prekäre Verhältnisse“ befasst er sich mit den Erzählungen von „Rava Mahabi“, der einen deutsch-indischen Hintergrund hat, und „Ayse Solmaz“, die türkischer Herkunft ist. Auf vierhundert dicht bedruckten Seiten analysiert Mecheril, jeweils ausgehend von einigen Stellen aus den Interviews, mit großem theoretischen Aufwand jede Facette des Themas Zugehörigkeit. Das ist oft genug eine ziemlich trockene Lektüre, aber der persönliche Bezug zu Rava und Ayse lockert den Lesefluss immer wieder auf.

Im Gegensatz zu dem üblichen Trauergesang über das schreckliche Leben „zwischen zwei Kulturen“ kann Mecheril zeigen, dass Rava und Ayse unter den äußerst schwierigen Bedingungen der Bundesrepublik dennoch Zugehörigkeit organisieren können. Ravas Modell nennt er „bistabil“, weil es aus „zwei je stabilen Verhältnissen“ – einem zu Deutschland, einem zu Indien – besteht. Ayses Modell wiederum heißt „halb-halb“, weil ihr ganzer Alltag „ein multikultureller, multilingualer und multireligiöser sozialer Zusammenhang ist. Mithin stellt Ayses alltäglicher Lebensraum einen hybriden Halb-halb-Kontext dar“. Daraus ergibt sich fast selbstverständlich der Appell, diese funktionierenden Lebensweisen endlich zuzulassen – also reale „Mehrfachzugehörigkeiten“ anzuerkennen.

In einem weiteren Buch mit dem Titel „Politik der Unreinheit“ hat Mecheril dieses Plädoyer noch einmal zusammengefasst. Auch diese Arbeit ist nicht leicht zu lesen, aber weniger akademisch als „Prekäre Verhältnisse“. Hier wird einem noch einmal erklärt, wo der herrschende Zwang zu Eindeutigkeit historisch herkommt und warum ein ganz und gar unromantischer Kampf für „Unreinheit“ heute notwendig ist. Am Ende geht der Blick auf „andere Räume“, die es schon gibt – etwa im Leben von Rava und Ayse.

Wenn man diese Realität der Einwanderungsgesellschaft akzeptiert, lässt sich eine vernünftige „Politik der Unreinheit“ daraus entwickeln. Lange Jahrzehnte hat die Wissenschaft in Fragen der Einwanderungsgesellschaft der herrschenden Politik gefallen wollen und beide Augen fest zugedrückt. Das hat sich mittlerweile geändert – zumindest in Arbeiten wie denen von Tanja Thomas und Paul Mecheril. Angesichts des weltfremden Gezerres um das Zuwanderungsgesetz kann man sich immerhin schon mal mit Lesen für die Zukunft rüsten.

Tanja Thomas: „Deutsch-Stunden. Zur Konstruktion nationaler Identität im Fernsehtalk“, Campus Verlag, Frankfurt am Main 2003, 438 Seiten. 45 EuroPaul Mecheril: „Prekäre Verhältnisse. Über natio-ethno-kulturelle Mehrfachzugehörigkeit“, Waxmann, Münster 2003, 430 Seiten. 36 EuroP. Mecheril: „Politik der Unreinheit. Ein Essay über Hybridität“, Passagen Verlag, Wien 2003, 121 Seiten, 14 Euro