Ins Kino gehen statt Ausbildung

Annäherung an die Filmanalysen von Gilles Deleuze: Wim Wender will an eigenen und zahlreichen Filmen aus dem umfangreichen Archiv der Kinemathek Hamburg im Metropolis der Theorie auf die Spur gehen, die in den Bildern steckt

Zeigen, wie die Welt jenseits unserer Wahrnehmung wirklich ist

von JAKOB HESLER

Eine Theorie des Films darf alles sein, nur nicht grau. Abstrakte und akademische Begriffskorsetts laufen Gefahr, das Phänomen des Kinos, das lebendige Bild, zu erdrosseln. Was kann die Filmtheorie tun, um sich davor zu bewahren? Simple Antwort: ins Kino gehen. Das Metropolis lädt im April dazu ein, sie dabei zu begleiten und auf die Probe zu stellen. Der theoretische Impuls für diese viel versprechende Kooperation mit der HfbK kommt von Professor Hans-Joachim Lengner, der dort gerade ein Seminar über die Kinobücher des französischen Philosophen und Cineasten Gilles Deleuze gibt (Das Bewegungs-Bild, Das Zeit-Bild, 1983).

Wim Wenders und Lengner haben dazu aus dem enormen Archiv der Kinemathek Hamburg ein Filmprogramm zusammengestellt. Wenders sieht in dieser geschichtlichen Rückschau zugleich eine Vorbereitung auf die Beschäftigung mit den neuen digitalen Bildwelten, der er seine Professur an der HfbK widmen will. Motto: Grundlagenforschung statt Ausbildung. Denn bei Letzterer sei es, so Wenders, „mit der Bildung schnell aus“. An die gerade entstehende marktorientierte Hamburg School of Media darf da wohl gedacht werden.

In einer Werkschau stellt Wenders zudem eigene Filme zur Diskussion. Es kommt also auch ein Praktiker zu Wort. Diese Verschränkung von praktischer und theoretischer Perspektive passt bestens, will Deleuze doch selbst solche Unterscheidungen unterlaufen. Er möchte nicht der Praxis eine Theorie überstülpen, wie es ihm und seinen französischen Denkkollegen gern vorgeworfen wird. Vielmehr ist es sein Anspruch, jene Theorie nachzuvollziehen, die dieser Praxis schon innewohnt. Filme sind für ihn weder Gegenstände noch Medium des Denkens, sondern sie denken selbst, entwickeln in ihren Bildern neue Konzepte des Bildes, der Bewegung, der Zeit.

Das hat seine Logik, denn wo sonst sollte sich die Entwicklung einer Kunstform abspielen als in ihr selbst und ihrer Geschichte? Allerdings blendet Deleuze leider andere Geschichte, zum Beispiel die soziale, weitgehend aus. Irritierend auch die geradezu kosmische Tragweite, die für ihn das hat, was der Film so denkt. Deleuze destilliert aus dem Vitalisten Henri Bergson eine spekulative Lichtmetaphysik, auch Einstein ist nicht weit: Materie = Licht, also sei das Universum der „Film an sich“. Starker Tobak. Aber er findet unerwartete Bestätigung in Dziga Vertovs Avantgardefilm Der Mann mit der Kamera (1929). Dieses Montagefeuerwerk will die Welt zeigen, wie sie jenseits unserer Wahrnehmung wirklich ist, und damit die innere – filmische – Sichtbarkeit der Dinge an sich.

Solche „Wahrnehmungs-Bilder“ sind eine Spielart des „Bewegungs-Bilds“, des Filmbilds überhaupt. Indem der Film Bewegung zeigt und die Kamera sich dabei auch noch selbst bewegt, verkörpert er „reine“ Bewegung. Das erweist Deleuze oft, wenn auch vage, an Wenders. Tatsächlich sind dessen Roadmovies ja ausgreifende Studien der Ortsveränderung. In Alice in den Städten (1974) bricht ein Reporter seine ziellose US-Reise ab und tingelt im Zufallsgespann mit der kleinen Alice auf der Suche nach ihrer Oma durch Deutschland. In Wuppertal fahren sie im Auto unter der schnelleren Hochbahn, durch deren Gleise die Sonne Reflexe wirft, die sich paradoxerweise auf der Straße rückwärts bewegen. Hier überkreuzen sich alle Bewegungsmittel und -richtungen und zugleich die zeitlichen Dimensionen der Suche in Zukunft und Vergangenheit. Wie das deleuzianisch auszudeuten ist, erörtere man am besten nach der Vorführung mit dem Regisseur.

Zeit ist jedenfalls ein weiteres Deleuze-Stichwort. Mit dem „Zeit-Bild“ erreicht die Filmgeschichte eine neue Stufe. Zeit wird nicht mehr durch Montage indirekt repräsentiert, sondern direkt im Bild. So etwa beim neuartigen Gebrauch der Tiefenschärfe in Orson Welles Citizen Kane (1940), der verschiedene Zeitschichten in ein und dieselbe Einstellung bringt. Noch eine traditionelle Gegenüberstellung ist unterlaufen: die von Montage und Bildgestaltung. „Zeit-Bilder“ liefern auch die divergierenden Erinnerungsstränge in Alain Resnais‘ Hiroshima – Mon Amour (1959), wie so viele weitere Perlen im Programm. Und wem das mit der Theorie jetzt zu bunt geworden ist, der konsultiere den begleitenden Deleuze-Reader (an der Kinokasse erhältlich).

Bis ans Ende der Welt: So, 17 Uhr + 27.4., 17 Uhr; L‘Invitation au voyage: Mo, 17 Uhr; Die Gebrüder Skladanowsky: Mo, 21.15 Uhr; Moana: Di, 17 Uhr; Ikuru – Einmal wirklich leben: Di, 19 Uhr; Alice in den Städten: Di, 21.15 Uhr, Metropolis; die Reihe wird fortgesetzt