100 Prozent Bahndamm

Eine Fahrt zum unerwarteten Auswärtssieg. Dass Werder Bremen nach langer Flaute nun die Dortmunder Borussen mit 2:1 bezwang, hat aber noch nicht alle Zweifel beiseite gefegt

Die Stimmung im Zug ist realistisch wie ein Trainerwort: Es sei noch viel zu tun.

taz ■ Eine grüne Bierflasche zersplittert auf dem Gleisschotter, Krach. Die Trostlosigkeit der Bahndämme im Ostwestfälischen möchte als gute Einstimmung auf das bevorstehende Spiel dienen. Diesseits der milchigen Scheiben des Zugabteils macht sich Zweckpessimismus breit. „Ich rechne lieber mit einer derben Niederlage“, sagt einer in der Warteschlange vor dem Klo, „da kann ich mich später wenigstens richtig freuen, wenn ‚ne Überraschung passiert.“

Dafür, dass Werder die schlechteste Mannschaft der Rückrunde ist und das erste von zwei schweren Auswärtsspielen ansteht (nächste Woche geht‘s nach München), ist der grünweiße Zug, der sich langsam über die Gleise ins Ruhrgebiet schiebt, recht voll. Ein Kind sitzt neben seiner Mutter und betrachtet die Eintrittskarte für‘s Westfalenstadion. Etwas weiter hinten wird im Vorübergehen noch die Persönlichkeitssstruktur irgendeines Schichtleiters diskutiert. Und beim unplanmäßigen Halt in einem leeren Provinzbahnhöfchen lallt einer lauthals Schmähungen gen Dortmund.

Als ich das letzte Mal im Westfalenstadion war, war ich vielleicht gerade fünfzehn. Nur zweihundert Meter vom Bus entfernt verlor ich meine Reisegruppe. Das Westfalenstadion, dessen beinahe 70.000 Menschen fassende Ränge zu allen vier Seiten des Spielfelds steil aufsteigen, ist vielleicht das englischste in der Liga. Heute ist es ausverkauft. Heute komme ich sicherer zu meinem Platz als damals. Heute scheinen sich die getreuen Fans das rituelle „Auswärts-Sieg“-Stakkato selbst nicht zu glauben. Doch wer glaubt beim Weihnachtslied schon wirklich an die Jungfrauengeburt. Niemand rechnet damit, dass Werders Defensivspieler Fabian Ernst wenige Minuten vor Schluss das spielentscheidende 2:1 erzielen wird. Ausgerechnet mit einem Treffer, dem schon jetzt berechtigte Chancen auf den Titel „Tor des Jahres“ eingeräumt werden.

Mitten in einem gleichwohl ziemlich fröhlichen Haufen schiebe ich mich auf die Stehplatzränge. Jenseits des Spielfelds eine schwarz-gelbe Schräge. Als ein Angriff der Dortmunder – flankiert durch den generös ausbleibenden Abseitspfiff von Schiedsrichter Lutz Wagner – zu Bremer Ungunsten zu Buche schlägt, scheint alles seinen schwarzen Gang zu gehen. Doch hört man immer häufiger Lobgesänge auf Pascal Borel, den vor kurzem arg gescholtenen Bremer Torhüter. Der einzige Gesang, den ich gerne und aus vollem Halse mitbrülle. Denn erstens ist es ausgerechnet Borel, der sich als erster aus anfänglicher Unsicherheit befreit. Und zweitens klingt das einfach gut: Pascal Pascal Pascal Borel!

Die zweite Hälfte bestreitet Werder drucksvoller, ist nun mindestens gleichwertig. Die Dortmunder stehen sich mit ihrer Larmoyanz ein ums andere Mal selbst im Weg. Und mit beherztem Biss in die ausgezeichnete Bratwurst kann der Ausgleich durch Charisteas bejubelt werden. Bis zu Ernsts Kunstschuss hat man sich lächelnd mit einem Unentschieden arrangiert. Und fährt schließlich doch mit einer echten Überraschung nach Haus. Zwei zu eins für Werder. Die Stimmung im Sonderzug retour ist trotzdem realistisch wie manches Trainerwort: Man müsse nun aufpassen und es sei noch so viel zu tun. Nur einmal, als sich der grün-weiße Haufen durch den Bremer Bahnhof schiebt, bevor er sich für Wochenfrist vereinzelt, schallt es noch einmal vielstimmig: Auswärtssieg. Auf ein Neues, kommende Woche im Münchner Olympiastadion.

Tim Schomacker