Ein Praxisbericht aus Neukölln

Im Wartezimmer der Ärztin Jutta Engel sitzen meist arme Patienten. Sie bunkern Medikamente oder pumpen für 10 Euro Nachbarn an. Viele sprechen nur Türkisch. Wer Ulla Schmidt ist, wissen sie nicht

von MARTIN REICHERT

„Burada Türk Hemseieri buluniyor“ steht unter dem Praxis-Schild der Neuköllner Allgemeinmedizinerin Jutta Engel. Das ist Türkisch und bedeutet, dass es eine türkisch sprechende Sprechstundenhilfe gibt. Die braucht es auch, denn die Praxis der Hausärztin liegt in der Bürknerstraße, unweit des Landwehrkanals. Zu ihrem Patientenstamm gehören viele Türken und Araber, außerdem Sozialhilfeempfänger und Studenten. Es sind nicht die Wohlhabenden, die sich hier verarzten lassen, sondern die Bewohner eines so genannten Problemkiezes.

Seit dem ersten Januar sind sie Betroffene der Gesundheitsreform, auch wenn viele das noch gar nicht begriffen haben: Die meisten der türkischen, arabischen oder serbischen Patienten wissen gar nicht, wer Ulla Schmidt ist. Sie blicken erstaunt, wenn die Sprechstundenhilfe Monika Bali (31), auf Türkisch, Kurdisch, Deutsch oder Englisch zehn Euro Praxisgebühr einfordert. „Die denken, ich will das Geld persönlich behalten“, erzählt sie genervt. Nach ausführlichen Erklärungen kommt dann meist die Frage: „Warum nimmt die Kasse das nicht von meinem Konto?“ Wie soll man auch erklären, dass die zehn Euro gezahlt werden sollen, damit die Krankenkassenbeiträge sinken. Versteht kein Mensch, aber Monika Bali erklärt trotzdem, lässt sich anschreien, beruhigt und hängt täglich in der Warteschleife der Hotline der Kassenärztlichen Vereinigung (KV), um Details und Ausnahmeregelungen zu erfragen. Sie versucht, Ordnung in das Chaos zu bringen: „Manchmal stehen hier fünf Leute und wedeln mit Scheinen, und ich habe nicht genug Wechselgeld.“

Dann die Lebensgeschichten der Patienten: keine Arbeit, kein Geld, der Mann ist krank. Es gibt viele Gründe, warum zehn Euro gerade nicht verfügbar sind, aber Monika Bali erkennt auch die Ausreden: „Hier wohnen sehr viele Leute, die vom Sozialamt leben, trotzdem dicke Autos fahren und das neueste Handy haben.“ Mittlerweile schreibt die Arzthelferin die ersten Mahnungen. Wenn Patienten nicht reagieren, wird der Vorgang an die Krankenkasse weitergegeben.

Wieder nach Hause geschickt wurde hier bislang noch niemand. „Ein Patient hat sich rigoros geweigert zu zahlen, aber der hatte auch Recht, weil er bereits in der Ambulanz gezahlt hatte“, erzählt Monika Bali und verweist auf den vor ihr liegenden Aktenordner: Dort hat sie sämtliche Flugblätter und Infozettel der Krankenkasse eingeheftet, sie weiß nun Bescheid.

Die offen herumstehende Kasse versucht sie zwar immer im Auge zu halten, aber Angst vor Überfällen hat die resolute junge Frau nicht. Es muss irgendwie gehen, denn das EC-Karten-Lesegerät hat ihre Chefin gerade wieder abbestellt. Es hätte 30 Euro Leasinggebühr im Monat gekostet, eine Flatrate hätte eingerichtet werden müssen und dann wären noch mal 30 Cent pro Buchung angefallen.

Chefin Jutta Engel profitiert davon, dass die größte Wut bereits an der Anmeldung verraucht: „Die Leute sagen mir, dass sie es gut finden würden, wenn wenigstens ich das Geld bekommen würde.“ Die Patienten wissen, dass Jutta Engel keine reiche Ärztin ist. Man merkt es schon an der Praxis, die so gar nichts Chromblitzendes hat und keine Designerschränke. Stattdessen wird jeder Neuankömmling erst mal vom Herrn des Hauses, einem schottischen Hirtenhund namens Duke, begrüßt. Er bellt nicht, dafür schnarcht er schon mal lautstark im Behandlungszimmer.

Die Praxis ist ein bisschen so, wie Jutta Engel Neukölln charakterisiert: „Freundlich, schlicht, einfach, ärmlich.“ Freundlich und ärmlich ist auch die Ärztin, sie nimmt sich viel Zeit für ihre Patienten, sucht das Gespräch. Die Bank hat ihr gesagt, dass sie sich für ihre Arbeit 800 Euro im Monat aus der Praxis ziehen darf. Mehr bleibt nicht übrig nach Abzug aller Kosten, ein Kredit ist auch noch abzustottern. „Sicherlich gibt es gut verdienende Ärzte, die haben dann viele Privatpatienten oder haben sich spezialisiert.“ Jutta Engel hat einen Tante-Emma-Laden und raucht mittlerweile Goldfield-Zigaretten von Lidl, die sind 60 Cent billiger. „Eine Zeit lang habe ich zusätzlich von meinem Erbe gelebt, das ist jetzt aufgebraucht“, sagt sie. Eigentlich bräuchte sie noch einen Mann mit regelmäßigem Einkommen, „einen Lehrer am besten“.

In der Debatte um die Gesundheitsreform ist oft von geldgierigen Ärzten die Rede, deren Pfründen es zu beschneiden gilt, und auch von Patienten, die auf Kosten der Allgemeinheit bedenkenlos von Arzt zu Arzt rennen. Aber hier ist Neukölln, und dort, wo dieser Stadtteil besonders finster ist, war Jutta Engel letzte Woche auf Hausbesuch: Einraumwohnung, ein altes Sofa, eine zerschlissene Decke, ein alter, kranker Mann, der in seinem Portemonnaie nur sieben Euro findet. Jutta Engel klingelte bei der Nachbarin, eine wackelige, alte Frau öffnete und kramte auf ihre Bitte hin die letzten fünf Euro aus der Tasche. „Ich habe mir die beiden Scheine gegrapscht und bin die Treppe runtergelaufen. Ich hätte mich fast übergeben.“

Beim nächsten Mal will sie die zehn Euro lieber selbst drauflegen. Was ihr zu Ulla Schmidt einfällt? Sie lacht, verschränkt die Arme und sagt: „Die lebt, glaube ich, in einer anderen Welt, hat keinen Kontakt mehr zum Fußvolk. Vielleicht hat sie auch die falschen Berater.“ Andererseits weiß die Ärztin auch nicht, wohin die Milliarden der Kassen letztendlich fließen: in die Kassen der Pharma-Konzerne? In die Taschen der Kollegen? In die Bürokratie? Wie das Gesundheitssystem sinnvoll zu reformieren wäre, weiß sie nicht. Sie weiß nur, dass bei ihr so gut wie nichts ankommt von den 140 Milliarden Euro, die jährlich im allgemeinen Gesundheitswesen umgesetzt werden. Und dass jetzt noch weniger Patienten kommen als vorher.

Die Menschen sind verunsichert, viele haben im letzen Quartal Medikamente gebunkert. Teilweise hat sie Tabletten verschrieben, die für ein halbes Jahr reichen, „aber irgendwann müssen die ja mal wieder kommen“, sagt Jutta Engel lächelnd. Vielleicht profitiert sie sogar von der Gesundheitsreform: Durch die wiedereingeführte Überweisungsregelung sollen die Patienten stärker an den Hausarzt gebunden werden, und das ist sie ja. Andererseits kann man sich nach der aktuellen Regelung auch vom Augenarzt zum Orthopäden überweisen lassen.

Die Berliner DAK hat sich auch noch nicht bei Jutta Engel gemeldet: Die Kasse plant, ihren Patienten die Praxisgebühr zu erlassen, wenn sie sich an einen bestimmten Hausarzt binden. Die DAK versucht gerade „besonders qualifizierte“ Ärzte in Berlin zu finden, um ein flächendeckendes Netz zu schaffen. Jutta Engel will jetzt mal bei der DAK anrufen, um sich zu erkundigen, wie das so ist mit der besonderen Qualifizierung. Oder sie geht nach Dubai, dort werden Ärzte gesucht und gut bezahlt. Dann müsste sie ihre Mutter nicht mehr um Benzingeld bitten, wenn sie ihre Familie besuchen will. Das Flugticket nach Stuttgart könnte sie sich dann wohl leisten. Weg aus Neukölln, wo sie sich mittlerweile lächerlich vorkommt, wenn sie das „Geschäft“ ihres Hundes in einen Plastikbeutel schaufelt: „Die Leute lachen einen ja aus. Der Bezirk ist total vergammelt.“

Krankschreibungen nehmen hier nur noch Teilnehmer von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in Anspruch, diejenigen, die noch eine richtige Arbeit haben, trauen sich nicht mehr krankzufeiern.

Andererseits nutzen viele junge Menschen die Krise Neuköllns als Chance, gerade hier an der Grenze zu Kreuzberg wohnen immer mehr Studenten, Künstler und Kreative, denen der Prenzlauer Berg zu teuer und durchgestylt ist. Eine davon ist Natalie S. (31), sie studiert Betriebswirtschaft und Germanistik an der FU und ist wegen ihrer Schilddrüse in die Praxis von Jutta Engel gekommen. „Ich habe es jetzt allmählich begriffen, einmal im Quartal zehn Euro“, sagt sie und erklärt: „Ich kann ja verstehen, was mit dieser Regelung gemeint ist, aber es funktioniert nicht. Meine Beiträge werden ja nicht gesenkt.“ Auch wenn sie einsieht, „dass in der Demokratie auch der Bürger mal ranmuss, wenn die Kassen klamm sind“, hat sie durchaus Angst davor, sich eine ernsthafte Erkrankung gar nicht mehr leisten zu können. Es ist ja nicht die Praxisgebühr allein, es sind auch die Zuzahlungen für Medikamente und für den Krankenhausaufenthalt, mit denen zu rechnen ist.

Jutta Engel hat in Freiburg studiert und sich nie Gedanken über das Geldverdienen gemacht. Als Abiturientin des Jahrgangs 1968 hatte sie andere Ideen im Kopf, war ein bisschen links, ein bisschen alternativ und fuhr 1978 mit ihrem R4 nach Berlin, um dort zu bleiben und zu arbeiten. In den 80er-Jahren übernahm sie schließlich die Praxis in der Bürknerstraße. Jetzt Dubai? Noch mal eine Veränderung, bevor sie zu alt ist? Jutta Engel wirkt ein wenig müde nach dem Tag in der Praxis, sie raucht noch eine Goldfield und schaut durch das Fenster in den dunklen Neuköllner Abend. Ein bisschen arabisch spricht sie schon.