„Wir sind alle Vorstandsvorsitzende“

Noch vor Monaten waren sie alle arbeitslos. Jetzt sind Ich-AGs und glauben an die Nische. Mit Hilfe des Arbeitsamtes wollen diese vier Berliner den Absprung schaffen. Unsicherheiten über das Geld, aber auch viel Optimismus pflastern den Weg in die Selbstständigkeit. Von JULIANE GRINGER

Ich: Heike Schmidt, 31 Jahre. Chanson-Sängerin und Feldenkrais-Lehrerin. Gelassen, kreativ, entschlossen.

AG: Eine fahrende Chanson-Bühne, darauf Heike Schmidt als Sängerin von deutschen und französischen Liedern, begleitet von Akkordeon und Kontrabass. Geplant sind Touren durch Deutschland und Europa.

Der Markt: „Gespalten“, meint die Künstlerin. „Es gibt die riesigen Veranstaltungen und auf der anderen Seite wird gekürzt.“ Sie greift in eine Lücke: „Ich bringe alles mit, von der Bühnenausstattung über die Künstler bis zur Technik. Vor allem kleine Veranstalter werden entlastet.“

Wie kam’s?: Die gebürtige Schwabacherin studierte in Paris Chanson. Sie führte Regie bei freien Produktionen und Theaterfestivals und organisierte Veranstaltungen. Ihre Stelle als Assistentin im Kulturmanagement beim „Institut Français“ fiel weg. Seit Ende Juli vergangenen Jahres ist Heike Schmidt arbeitslos. „Ich will versuchen, das, was ich mache – musikalisch anspruchsvolle Chansons –, besser zu verkaufen“, sagt sie. In Sachen Ich-AG war die Chansoniere früh dran. „Ich hatte schon im Herbst davon gehört“, erinnert sie sich. „Im Januar habe ich mich beraten lassen und die Formulare besorgt.“

Der Antrag: „Die Besuche beim Arbeitsamt waren frustrierend, da man mir dort nicht gerade freundlich begegnete“, so Schmidt. Doch der Antrag wurde überraschend schnell und unkompliziert abgewickelt, das erste Geld ist schon auf dem Konto eingegangen.

Jetzt geht’s los?: Fast. Seit 17. Februar ist Heike Schmidt eine „Ich-AG“. Sie koordiniert Termine, sucht nach Auftrittsmöglichkeiten noch für diesen Sommer. Spätestens im August will sie zum ersten Mal auf der fahrbaren Bühne stehen. Doch dazu muss erst das Auto her, ein Laster, der groß genug ist, aber keinen Lkw-Führerschein erfordert.

Die Lagerstimmung: Optimistisch. Wenn ihr jemand die Organisation abnehmen könnte, wäre sie jedoch froh. „Die kostet viel Zeit und Nerven und zieht weg vom kreativen Prozess.“

Die Ziele: „Die Bühne zum Laufen bringen natürlich und zwischendurch durchatmen können, um sich von der Muse küssen zu lassen und neue Lieder zu schreiben. Außerdem wieder den Sprung auf festen Bühnenboden schaffen.“

Ich: Chris Wild, 30 Jahre, Architekt. Diszipliniert, optimistisch, ehrgeizig.

AG: 3D-Visualisierungen für Architekten. Baulücken kann Wild optisch schon am PC schließen. Architekturbüros brauchen seine Bilder, um zu zeigen, was sie vorhaben.

Der Markt: „Relativ klein“, stellt Wild realistisch fest. Noch sind die Bilder sehr teuer. „Ich muss kalkulieren, zu welchem Preis ich sie anbieten kann.“

Wie kam’s?: Als Architekt hat Chris Wild nach dem Studium nur drei Jahre lang gearbeitet. „Ich wollte doch immer was anderes“, sagt er. Seine Leidenschaft für Videospiele brachte ihm dann einen Job als Spieletester für eine Softwarefirma ein, für der er später auch Konzepte schrieb und Grafiken entwickelte. Das künstlerische Entwerfen machte ihm schon immer Spaß, ein Softwarekurs beim Arbeitsamt, Studienkenntnisse und „learning by doing“ bilden die Basis seiner Arbeit. Seit August vergangenen Jahres ist Wild arbeitslos: „Die Idee mit der Selbstständigkeit hatte ich schon lange. Ich finde es reizvoll, ohne Chef zu arbeiten.“ Als Alternative zu Existenzgründerseminar oder Überbrückungsgeld tauchte da plötzlich dieser Begriff auf: „Ich-AG“. „Mein Arbeitsberater meinte, das könnte bei mir passen.“

Der Antrag: „Funktionierte reibungslos. Ich habe einen Business-Plan eingereicht und eine Woche später lag die Zusage im Briefkasten.“

Jetzt geht’s los?: Ja. Nur zu Hause arbeiten findet Chris Wild aber auf Dauer nicht gut. „Räumlicher Abstand in einem Büro wäre besser.“ Zu dritt kann man sich Kosten für Miete, Telefon etc. teilen – und „kennt dreimal mehr Leute“. Deshalb will Wild eine Bürogemeinschaft mit zwei Webdesignerinnen gründen. „Jeder macht sein eigenes Ding, aber bestimmte Sachen können wir so im Paket anbieten.“ Kontakte knüpfen ist nun wichtig. „Wir schicken ein Infopaket mit Arbeitsproben an die Firmen und haken am Telefon nach.“

Die Lagerstimmung: „Ich lebe von Erspartem und komme mit dem Zuschuss vom Arbeitsamt finanziell gut über die Runden. Aber nur für den Papierkorb zu produzieren, zehrt aus. Es wäre langsam Zeit für die ersten Aufträge.“

Die Ziele: Auf jeden Fall das erste Jahr überstehen und schauen, wie es läuft. „Ich werde mich an den Markt anpassen müssen.“

Ich: Jan-Philipp Frühsorge, 35 Jahre, Kunsthistoriker. Ausgeglichen, hartnäckig, zuversichtlich.

AG: eine eigene Galerie in Mitte, vorrangig mit Zeichnungen von deutschen und internationalen Künstlern.

Der Markt: eng. „In Berlin gibt es über 300 Galerien.“ Aber Jan-Philipp Frühsorge hat erste Erfahrungen auf dem Gebiet, kennt das Kunstgeschäft. Und er vertraut darauf, dass trotz wirtschaftlich problematischer Lage in Kunst investiert wird. Denn: „Kunst hält ihren Wert.“

Wie kam’s?: „Ich war ein Jahr lang in einer Media-Agentur angestellt. Die musste im vergangenen Sommer Insolvenz anmelden.“ Seitdem ist er arbeitslos. Frühsorge schreibt noch an seiner Doktorarbeit über Künstler im Doktumentarfilm der 20er-Jahre. Nebenbei jobbte er schon länger in einer Berliner Galerie. Die löste sich aber auch auf. Also Selbstständigkeit! In einem Museum zu arbeiten, könnte sich der Kunsthistoriker sowieso nicht vorstellen. Und statt Überbrückungsgeld lieber die neue „Ich-AG“, weil sich das finanziell mehr lohnt. Die Selbstständigkeit bringe für ihn vor allem Vorteile: „Ich möchte selbst entscheiden, was ich in der Galerie zeige und wie.“ Familie und Freunde stehen hinter ihm. „Existenzangst ist natürlich da, aber ich bleibe optimistisch.“

Der Antrag: … wurde sofort bewilligt. Nur die Beratung beim Arbeitsamt reichte nicht aus. Deswegen half ihm ein Unternehmensberater, der früher selbst Kunsthändler war und daher über die nötigen Branchenkenntnisse verfügt. Was noch fehlt, ist die Zusage der Bank für das „Startgeld“. Ohne das wird erst mal nichts aus der Idee.

Jetzt geht’s los?: Noch nicht. Solange die Finanzierung nicht steht, kann der Galerist nicht starten. Trotzdem plant er schon Ausstellungen, die „erste Künstlerin steht in den Startlöchern“. Passende Räume hat er auch schon gefunden und sie beim Vermieter reservieren lassen.

Die Lagerstimmung: „Ungeduldig“, sagt Jan-Philipp Frühsorge. Erst noch die Finanzierungsanträge abzuwarten, zehrt an den Nerven. Er will loslegen.

Die Ziele: „Drei Jahre muss man einer Galerie schon geben.“ Bei Fremdfinanzierung durch die Bank könne es in der Anlaufphase auch mal eng werden. Aber der Ich-AGler ist optimistisch. Wenn es mit der eigenen Galerie nicht klappen sollte, will er sich mit Partnern zusammenschließen oder eine Stelle in einer anderen Galerie suchen. Und seine Doktorarbeit will er auf jeden Fall fertig schreiben.

Ich: Petra Pavel, 50 Jahre, Schauspielerin und Trainerin für Tai-Chi und Qigong. Erdgebunden, kommunikativ, bewusst.

AG: ein „Schulungs- und Trainingszentrum für Körperintelligenz“. Petra Pavel verbindet verschiedene Techniken: Tai-Chi und Qigong unter anderem mit Akupressur, Kinesiologie und transpersonaler Psychologie. Das Ergebnis ist eine ganzheitliche Methode für Körper und Geist. Trainiert werden die „Fünf Säulen der Gesundheit“: Bewegung, Entspannung, Ernährung, Bewusstsein und Umgang mit Umwelteinflüssen.

Der Markt: … ist voll. Aber Petra Pavel punktet mit Individualität. Die Schauspielerin gibt schon Kurse für Schauspielstudenten und in Wellness-Centern. Darüber hinaus will sie sich mit Werbemaßnahmen und per Mundpropaganda einen weiteren Kundenstamm erschließen.

Wie kam’s?: 25 Jahre arbeitete die gebürtige Ostberlinerin als Schauspielerin. Seit 1992 ist sie arbeitslos, verdiente sich immer nur ein kleines Zubrot. Am Theater entdeckte sie vor über zehn Jahren bei einem Kurs Tai-Chi für sich. Andere fernöstliche Methoden folgten und Pavel absolvierte zahlreiche Fortbildungen, um die entsprechenden Zertifikate zu bekommen. Die Schauspielschule, an der sie unterrichtet, muss jedoch nun schließen. Die Selbstständigkeit war für sie deshalb eine logische Folge. Das gewinnorientierte Denken muss sie trotzdem erst lernen. „Mit Buchführung und diesen ganzen Sachen stehe ich auf Kriegsfuß“, sagt Petra Pavel. Beim Verein „akelei“ nahm sie an einer Schulung zu Marketing und Buchführung teil.

Der Antrag: „War kein Problem.“ Die Finanzierung steht aber noch aus. Petra Pavel erwartet das Schreiben von der Bank mit der Zusage für den Kredit.

Jetzt geht’s los?: Hoffentlich bald. Räume für ihre Kurse hat Petra Pavel schon gefunden. Wenn die Finanzierung steht, wird sie spätestens im August richtig starten können. Vorher plant sie Sommerkurse gemeinsam mit einer Kunsttherapeutin.

Die Lagerstimmung: „Mit dem Tag des Antrags war alles anders. Ich fühle mich freier, offener und habe ein neues Selbstbewusstsein“, so die Trainerin.

Die Ziele: „Ich bin überzeugt davon, dass es mit meiner Selbstständigkeit klappt!“ Petra Pavel hat für sich einen Ort gefunden, an dem sie ihre Energien bündeln kann. Sie vertraut auf ihren schon bestehenden Kundenstamm als Existenzgrundlage. Und: „Es ist nie zu spät, etwas Neues zu beginnen.“