amerika im krieg (11)
: Ein Tagebuch unseres USA-Korrespondenten Michael Streck

Im Spielkasino gibt es keinen Krieg

Zuerst tauchen die hohen Reklameschilder und wenig später die glänzenden Bronzetürme aus der Flussebene auf. Eine surreale Kasinolandschaft erhebt sich aus den Feuchtgebieten des Mississippi, dem Armenhaus Amerikas, umgeben von Sumpf, Baumwollfeldern und Moskitos. Tunica besteht aus neun Kasinos mit den dazugehörigen Bettenburgen. Sie heißen „Goldstrike“, „Harrahs“ oder „Ballys“.

Das „Ameristar“ hat die Form eines alten Schaufelraddampfers. Der Rumpf leuchtet grellweiß in der Sonne. Die drei Etagen mit Spielhallen sind gut besucht. In der Mitte stehen Roulette-Tische, umringt von unzähligen „Slot Machines“. Unter der Decke hängen im Abstand von einem Meter Fernsehbildschirme. Nur Sport, kein Krieg ist im Programm. Das Glücksspieler-Publikum setzt sich überwiegend aus weißen Rentnern zusammen. Die wenigen Schwarzen sind entweder ganz alt oder ganz jung. Eine Fensterfront gibt den Blick frei auf den Mississippi, auf dem sich ein Schleppzug flussaufwärts quält. Echte Raddampfer sind kaum noch in Betrieb. Der „Ol' Man River“ ist ein Arbeitsfluss, kanalisiert, mit verbrauchten Ufern und sterbenden Industrien. Die einzig neuen Bauwerke sind die Tempel des Glücks.

„Why Buy Happiness When The Blues Is Free?“, steht in großen Lettern über einem Tresen. Stephanie, die Barfrau, hat Feierabend und muss ihre Kinder von der Schule abholen. „Die fragen mich dann wieder über den Krieg aus“, sagt sie. „Wenn ich hier morgens zur Tür hineinkomme, sind Irak und und die beklemmenden Nachrichten wie weggefegt.“ Eine 64-jährige Frau aus Texas sitzt an der Theke, in die Bildschirme eingelassen sind, sodass man beim Cocktail nicht unter Entzug leidet. Die zwei Tage Tunica würden die siebenstündige Autofahrt wieder wett machen. Sie sei seit Kriegsbeginn sehr nervös. Und die Hochzeit ihrer Tochter sei deswegen verschoben worden. „Ich musste einfach mal raus.“

Dem rüstigen Mittsechziger mit Schnurrbart und strahlend weißen Zähnen glaubt man sofort, dass er sich nicht um den Krieg kümmert. „Ich lasse mir doch davon nicht den Lebensabend verderben.“ Dafür sei der Präsident zuständig und der mache das ganz anständig. Zweimal die Woche fährt er aus Louisiana allein oder mit seiner Frau hierher. „Irgendwie muss man sich ja als Rentner vergnügen.“

Viele Spieler starren wie geistesabwesend auf die rollenden Zahlen oder Bilder. Audrey raucht und hämmert in Sekundentakten auf die Knöpfe von gleich drei Maschinen. „20 Dollar waren mein Einsatz, 140 habe ich bereits gewonnen und noch den ganzen Tag vor mir“, sagt sie zufrieden. Sie hat sich einen Tag „Urlaub von Arbeit und Krieg“ genommen. Die Frau im Jeansanzug betet jeden Tag für die Soldaten und steht voll hinter Bush. Sie ist jedoch enttäuscht, dass andere Länder beim Krieg nicht mitmachen. „Saddam bedroht uns doch alle.“ Eine andere Frau ist einfach nur in der Mittagspause für eine Stunde gekommen. Das mache sie öfter, um sich abzulenken. Sie wisse nicht, ob der Krieg richtig oder falsch sei, das würden die in Washington schon regeln. Aber sie wisse, dass sie kein Verständnis für Proteste habe. „Man kann nicht in einem Atemzug den Krieg kritisieren und gleichzeitig unsere Truppen unterstützen.“

Kaum verschwinden die Lichtkegel Tunicas im Rückspiegel, erscheinen wieder die untrüglichen Zeichen des Deltas: windschiefe, vom Einsturz bedrohte Häuser, altertümliche Benzinpumpen und Autos, die nirgendwo auf der Welt mehr zugelassen werden. Schreiben wir das Jahr 1960? Um die Zeit auszublenden, muss man wirklich kein Roulette spielen.