„Lasst ihnen ihren Protest“

„Ich rate, auch mal zu kritisieren, dass sie wegen Demos die Schule schwänzen“

Interview INA KÖHLER

taz: Herr Professor Hurrelmann, Sie haben für die heutigen Jugendlichen den Begriff der Egotaktiker geprägt. Jetzt geht genau diese Jugend auf einmal in Massen auf die Straße, haben Sie sich getäuscht?

Klaus Hurrelmann: Nein, ich glaube nicht. Das ist ja gerade ein Bestandteil dieses egotaktischen Verhaltens, dieser Mentalität, auch bei politischen Themen von ganz ursprünglichen Bedürfnissen und Wünschen auszugehen. Wir haben ja in der Shell-Studie festgestellt, dass das Interesse der Jugendlichen für die etablierte Politik, für Parlament und Parteien, eher klein ist. Das ändert sich deutlich, wenn es um punktuelle Ereignisse geht, die emotional ansprechen. Und genau das ist passiert. Gerade das macht die heutige Äußerung von Schülerinnen und Schülern ja auch so stark.

Ist die Jugend nun gegen Krieg oder gegen diesen Krieg?

Das kommt sicher zusammen. Da ist einmal die Empörung, dass Krieg per se betrieben wird, und die ist gepaart mit der Bewertung, dass hier ein Starker ganz offensichtlich die Schwachen drangsaliert. Die Antikriegshaltung ist groß in der jungen Generation, und zusammen mit diesem Gefühl – hier kommt ein Ungleichgewicht in die Ordnung unter Menschen – ergibt das ein sehr starkes ethisches Motiv auf beiden Ebenen.

Sind die Jugendlichen vielleicht auch deshalb so betroffen, weil gerade von ihnen verlangt wird, dass sie sich an Regeln und Gesetze halten?

Auch das spielt sicher eine Rolle. In einer Lebensphase, in der sich Jugendliche mit den Spielregeln einer Erwachsenengesellschaft auseinander setzen müssen, ihnen aber zugleich immer wieder signalisiert wird, dass es in der Praxis des alltäglichen Lebens erhebliche Abweichungen von den gepredigten Idealen und Werten gibt, ist heute die Sensibilität für eine solche Verletzung von Gerechtigkeitsregeln interessanterweise bei den jüngeren Jugendlichen sogar höher als bei den Studierenden.

Also ein „naiver Glaube an das Gute“, wie der Spiegel vermutet, oder verlieren die Jugendlichen durch diesen Protest ihre politische Naivität, wie Ihr Kollege, der Protestforscher Dieter Rucht, erwartet?

Vom Ansatz her ist dieser Protest in einem guten Sinne des Wortes spontan und daher auch in einem guten Sinne des Wortes naiv. Ich protestiere einfach, ich bin nicht einverstanden. Zunächst nicht unbedingt ein hoch informierter Protest. Wenn ich mich aber einmal so positioniert habe, habe ich mich ja auch vor meinem Freundeskreis und vor meinen Eltern deutlich geäußert und festgelegt und bin nun gezwungen, mir die Argumentation noch einmal zurechtzulegen, die rational hinter meinem Handeln steht. Daher könnte ich mir sehr wohl vorstellen, dass das bei Jugendlichen zu einer sehr deutlichen Politisierung führen kann.

Welche Rolle spielt dabei die Haltung der Regierung? Hat der Kanzler bei den Jugendlichen einen Nerv getroffen?

Zum ersten Mal macht die Politik das, was ich mit meinem Bauch für richtig halte. Da muss ich nicht lange nachdenken, was da nun eigentlich die Logik dabei war, sondern es erschließt sich mir unmittelbar. Das ist natürlich auch ein befreiender Akt. Also einerseits eine sehr starke Rechtfertigung für die Politik von Schröder und Fischer in den beiden Schlüsselrollen und andererseits für die Jugendlichen in dieser Phase der Selbstfindung auch ein Identität bildendes Ereignis, weil sie etwas richtig eingeschätzt haben und das von den Mächtigen auch noch geteilt wird.

Steckt dahinter auch die Erleichterung, endlich einmal stolz auf sein Land sein zu dürfen?

Ja, und möglicherweise auch der Wunsch, dass man das in einer Demonstration nach außen naiv und unkontrolliert sagen kann, nicht im Sinne von political correctness, dreimal im Gehirn und mit der Schere im Kopf. Und das geht nur, wenn die eigene Regierung dieselbe Sprache spricht.

Werden sich die Jungwähler daran auch noch beim Urnengang erinnern?

Das Wahlverhalten der Jugendlichen ist seit den letzten 20 Jahren immer themenbezogen gewesen. Die jungen Leute sind im wahrsten Sinne auch hier spontan, und sie entscheiden dann aus dem Bauch heraus. Das zählt jetzt in der Gegenwart sehr wohl als Stimmungsbarometer, aber das kann bei der nächsten Wahl in Bremen schon wieder vorbei sein.

Skeptiker befürchten, dass die Jugendlichen von diversen politischen Interessensgruppen instrumentalisiert werden könnten.

Zu den unbestechlichen Merkmalen dieser Generation gehört es, sich Unabhängigkeit zu bewahren und sich auch die Freiheit herauszunehmen, morgen einen ganz anderen Akzent als heute zu setzen. Wenn jetzt andere versuchen, sich da dranzuhängen und sich diesen frischen, spontanen, politischen Impuls anzueignen, werden die sehr schnell Schiffbruch erleiden.

Entsteht da eine neue Friedensbewegung?

Ich würde schon so weit gehen und sagen, dass es eine Trendwende in der politischen Orientierung und der Politisierungsbereitschaft bedeutet. Ob daraus jetzt eine neue Friedensbewegung wird, das möchte ich zunächst einmal bezweifeln. Denn alles, was langfristige Orientierungen und Bindungen betrifft, spricht diese Generation vom Typus her eigentlich nicht an. Aber es werden elementare Fragen des Zusammenlebens und der Perspektiven der Zukunftssicherung berührt. In welcher Gesellschaft werde ich einmal leben? Wird die gerecht sein? Wird die Umwelt intakt sein? Solche globalen, man könnte fast sagen, solche fundamentalen Fragen haben junge Leute immer sehr stark interessiert, und die entzünden sich jetzt an einem solchen akuten kriegerischen Ereignis.

Ist auch ein Einfluss auf die gesellschaftliche Entwicklung zu erwarten?

Tatsächlich ist es ja ungemein spannend, dass diese altmodische Form der politischen Meinungsäußerung, die Demonstration, jetzt von ganz jungen Leuten wieder so stark entdeckt wird. Das hinterlässt Spuren. Wenn es den jungen Leuten und auch uns in der Öffentlichkeit gelingt, diese Demonstration als Anlass zu nehmen, grundsätzliche Fragen des Zusammenlebens von Menschen, von Völkern und der internationalen Spannungsregulation zu diskutieren, könnte das ein Anstoß sein, sich auf eine neue Werteorientierung, auf Authentizität und Echtheit, die die Jugendlichen schon immer vermisst haben, zu besinnen.

Erwächst aus der Tatsache, dass dieses altmodische Mittel der Demonstration eigentlich das Metier der Eltern ist, auch so etwas wie Konkurrenz?

Das wäre sogar zu wünschen. Für die Jugendlichen ergeben sich heute gegenüber der älteren Generation mit ihrem weitherzigen Verständnis und ihrer großen Liberalität sehr große Spielräume. Zudem gibt es diesen unangenehmen Nachahmeffekt, dass alles, was die Jugend an Lebensstil, an Ausdruck, an Sprache selbst entwickelt, von Eltern imitiert wird. Das ist eine Situation, in der ich als junger Mensch eigentlich nichts mehr machen kann, um mich abzusetzen. Ich kann da nur appellieren, auch mal zu kritisieren, dass sie die Schule schwänzen, und auch deutlich zu machen, was wir an einigen Ausdrucksformen und an der doch recht oberflächlichen Meinungsäußerung auszusetzen haben. Das brauchen sie, und das brauchen auch wir. Dass auch wieder ein wenig Generationenspannung artikuliert werden kann, denn das ist beängstigend, dass die in den letzten zehn, zwanzig Jahren praktisch weg war.

Manchen Eltern ist das peinlich, wenn ihre Kids bei der Demonstration auch noch gut aussehen wollen, und argwöhnen, das Bekenntnis zum Frieden sei nichts anderes als eine neue Mode.

Natürlich gibt es noch immer die Grundmentalität, vom Ego aus die Welt zu sehen und zu erschließen. Die wird in die Bewegung hineingetragen. Dass dazu jetzt auch für uns Ältere befremdliche Selbstdarstellungs- und Showeffekte gehören, das ist so. Das war aber in der 68er-Bewegung auch so, nur äußerte sich das in anderen Aperçus. Da muss man sagen: Nun lasst ihnen ihre Ausdrucksmöglichkeiten und lasst uns daran reiben, dass wir den jungen Leuten auch mal einen Platz geben für ihre eigene Ausdrucksmöglichkeit mit einem wirklich großen politischen Thema.