Berufskrankheit 1317

Die Schwerkranken kämpfen gegen eine ausgefeilte Maschinerie aus Geld und BeziehungenToxische Enzephalopathie ist die weitestverbreitete Umwelterkrankung. Sie wird jedoch fast nie diagnostiziert

VON REINER METZGER

Es ist einer dieser alltäglichen Krimis auf den Gewerbehöfen der deutschen Politik: Was tun mit den vielen Menschen, die nach dem Kontakt mit giftigen Lösungsmitteln im Beruf nicht mehr arbeiten können? Wer finanziert ihre Rente, ihre Entschädigungen?

Arbeitsunfähig werden aufgrund der Bedingungen seiner Arbeit – bei diesem Phänomen handelt es sich bei weitem nicht um marginale Einzelfälle. Es gibt zehntausende von schwerwiegenden Beispielen aus den unterschiedlichsten Branchen: von der Trachtenschneiderin bis zum Lackierer, von Reinigungsbesitzern bis zu Chemiearbeitern. Lösungsmittel und andere chemische Verbindungen verflüchtigen sich während vieler Arbeiten in der Luft. Wer sie einatmet, schädigt sein Nervensystem. Entsprechend vielfältig sind die Auswirkungen: von Aggressionen bis zu schwersten allergischen Schocks, von nachlassender Libido bis zu Vergesslichkeit, Lähmungen und mangelnder Konzentrationsfähigkeit.

Hätten die Schuldigen finanziellen Druck, dann sähe die Sache vielleicht anders aus. Doch anstelle der Verursacher werden die solidarfinanzierten Sozialversicherungssysteme belastet – Kranken-, Renten und Arbeitslosenkassen. Ein Betrag von „geschätzten vier Milliarden Euro pro Jahr, die eigentlich von der Industrie bezahlt werden müssten“, so Peter Röder von der Initiative kritischer Umweltgeschädigter (IkU). „Ein massiver Betrug.“

Der Rechercheur Röder kämpft stets am Limit – finanziell wie gesundheitlich. Der Kontakt mit Holzschutz- und industriellen Reinigungsmitteln haben den heute 40-Jährigen zu einem Musterfall für Nervenschäden aller Art gemacht. Seit acht Jahren bestätigen ihm das namhafte Ärzte. Trotzdem hat er noch keinen Euro Rente erhalten. So zwackt der dickschädlige Unterfranke die erklecklichen Telefon- und Internetkosten seiner ehrenamtlichen Wühlarbeit von seiner Arbeitslosenhilfe ab und hat sich damit hoch verschuldet.

Dabei hat die Initiative weitere Projekte, die dringend finanziert werden müssten: einen Leitfaden etwa, der Erkrankten detailliert sagt, was sie nach dem Verdacht einer berufsbedingten Chemie-Erkrankung am besten tun sollen. Und eine Software, die alle Diagnoseschritte für Ärzte leicht zugänglich im Praxiscomputer oder dem World Wide Web zur Verfügung stellt.

Die Politik indes unterstützt bis heute das Vorgehen der Industrieverbände. Obwohl hier Schwerkranke gegen eine ausgefeilte Maschinerie aus Geld und Beziehungen kämpfen. Und obwohl die Industrie den Finanz- und Sozialministern hier Milliarden vorenthält. Auch der Wechsel zu einer rot-grünen Bundesregierung hat daran praktisch nichts geändert.

Dabei sind die Lösungsmittelkrankheiten trotz ihrer Vielfältigkeit schon in den 70er- und 80er-Jahren international gut dokumentiert. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat 1985 klare Kriterien zum Erkennen der Nervenschäden verabschiedet. Damit rollte eine Kostenlawine auf die deutsche Industrie zu – speziell auf die zuständige Unfallversicherung und ihre Träger, die Verbände der Berufsgenossenschaften. Dort sind alle Unternehmen Zwangsmitglied und zahlen dafür im Schnitt 1,33 Prozent ihrer Lohnsumme als Beiträge (www.hvbg.de).

Doch die Industrie schaffte es dank ihren Helfern, die hohen Kosten für ihre durchweg chronisch erkrankten Arbeitnehmer auf den Staat abzuwälzen. Erst nach langem Kampf einiger Gewerkschafter und Experten wird im Jahr 1997 die entsprechende Lösungsmittel-Berufskrankheit offiziell vom Bundesministerium für Arbeit eingeführt. Die BK trägt den sperrigen Namen „Polyneuropathie oder Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische“, erhält die Nummer 1317 und wird deshalb kurz BK 1317 genannt. In der wissenschaftlichen Begründung des zuständigen ärztlichen Sachverständigenrates des Bundesministeriums finden sich 175 Literaturstellen meist internationaler Wissenschaftler samt diverser Fallstudien zu Verlauf und Erscheinungsform der Krankheit.

Doch umgesetzt wird die Erkenntnis nicht. Das zeigen schon die Zahlen des Hauptverbandes der Berufsgenossenschaften. Gemeldet wurden in den Jahren 1997 bis 2002 1.636 Verdachtsfälle. Für ganz Deutschland wurden davon aber nur 67 Fälle als Berufskrankheit anerkannt, ein gutes Dutzend pro Jahr. Und von den paar Anerkannten erhalten wiederum nur die wenigsten tatsächlich eine Rente.

Dies ist ein bitterer Witz für die Geschädigten. Bis auf ein paar ganz Zähe, die dann auch noch an die richtigen Berater herankommen müssen, prallen alle potenziellen Rentenempfänger am engen Geflecht der Berufsgenossenschaften ab. Denn die BGen, wie sie im Jargon heißen, haben sich abgesichert. Zwar sitzen in ihren Gremien die Industrie und die Gewerkschaften zu gleichen Teilen, beaufsichtigt von der Politik und ihren Verwaltungen. Doch im Zweifelsfall geben Gutachter und Experten den Ausschlag.

Viele der dort anzutreffenden Experten sind so, wie sie sich der Bürger in seinen Alpträumen vorstellt: Sie erhalten lukrative Gutachteraufträge von den BGen, solange sie im Sinne der Berufsgenossenschaften argumentieren. Diese Experten werden natürlich parallel zur Verabschiedung der BK 1317 aktiv, um im eigenen Selbstverständnis Schaden von der deutschen Wirtschaft abzuwenden und damit dem deutschen Volke zu dienen.

Einen Schwachpunkt, an dem sie den Hebel ansetzen können, finden die mit der BG verbundenen Arbeitsmediziner schnell. Denn es gilt, nun den Ärzten draußen vor Ort die neue Berufskrankheit nahe zu bringen. Dafür gibt es ein letztlich vom Ministerium herausgegebenes, so genanntes „Merkblatt für die ärztliche Untersuchung“. Verfasst hat es der heute emeritierte Professor für Arbeits- und Sozialmedizin Johannes Konietzko aus Mainz, ein in Kreisen der Chemiegeschädigten berüchtigter Sachverständiger. Und einige Passagen dieses Merkblattes sorgen denn auch dafür, dass viele Ärzte eine beruflich bedingte Krankheit bei ihren Patienten meist gar nicht erkennen oder ausschließen, obwohl internationale Arbeiten ein ganz anderes Ergebnis nahe legen würden. Ist etwa ein Erkrankter den Lösungsmitteln nicht mehr ausgesetzt, wird in Deutschland eine Verschlechterung des Krankheitszustandes praktisch ausgeschlossen – obwohl in der Fachliteratur das zunehmende Leiden der Lösungsmittelgeschädigten häufig beschrieben wird.

Ähnliche Aussagen wie im Merkblatt stehen zwei Jahre später auch im umfangreicheren Report der Berufsgenossenschaften zur BK 1317, dem BK-Report 3/99. Unter den Autoren findet sich ein ganzer Reigen notorischer Gutachter, neben Konietzko auch der Heidelberger Professor Gerhard Triebig, der laut gerichtlich geprüfter Kollegenschelte auch „vor Fälschungen nicht zurückschreckt“.

Die Aussagen international renommierter Kollegen werden zurecht gebogen. So heißt es etwa auf Seite 114 des BK-Reports 3/99: „… haben Längsschnittstudien bei beruflich bedingten Erkrankungsfällen … keine Progredienz (d. h. Verschlechterung, die Redaktion) nach Beendigung der Exposition gezeigt.“ Es werden zwei Studien genannt, die angeblich diese Regel stützen. Doch heißt es zum Beispiel in einer der beiden zitierten Langzeitstudien an schwedischen Patienten, dass sich eben doch 9 von 17 untersuchten Symptomen im Schnitt verschlechtert haben – und zwar noch Jahre nach Beendigung der Arbeit. In deutschen amtlichen Leitfäden für die Arbeitsmedizin ist die Welt auf diese Weise einfacher als anderswo.

„Die als Berufskrankheit 1317 anerkannte Toxische Enzephalopathie ist wohl die weitestverbreitete Umwelterkrankung. Allerdings wird sie so gut wie nie diagnostiziert“, resümiert der Umwelttoxikologe Tino Merz. Für Merz wie auch den Betroffenen-Verband für berufsbedingt Erkrankte (Abekra) eine Folge der haarsträubenden Gutachten im Auftrag der Berufsgenossenschaften – und der beiden amtlichen Veröffentlichungen: „Das Merkblatt und der BK-Report 3/99 sind eine Fälschung der wissenschaftlichen Literatur und die Anleitung zu Diagnosen führt den Arzt in die Irre“, so Merz nach detaillierter Prüfung der beiden offiziellen Leitfäden. Details dazu und auch wie man durchaus die beruflich erworbene Nervenschädigung von anderen unterscheiden kann, beschreibt der Sachverständige Merz (www.dr-merz.com) Ende Januar in der Zeitschrift Umwelt Medizin Gesellschaft.

Peinlich ist bei alledem, dass der Sachverständigenrat des Arbeitsministeriums 1997 das Merkblatt ihres damaligen Ratskollegen Professor Konietzko absegnete. Das sehen heutige Mitglieder des Rates genauso. Und das Ministerium (zuständig ist jetzt das Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung unter Ulla Schmidt) will auf Anfrage angeblich den Autor des Merkblattes nicht mehr ermitteln können. Dabei wird die Gesundheitsreform des gleichen Hauses verpuffen, wenn nicht die große Zahl der teuren chronischen Kranken durch Enzephalopathien und ihre Folgekrankheiten bei den Krankenkassen vermindert wird.

Zumindest ist durch die jahrelange öffentliche Kritik nun endlich Bewegung in die Sache gekommen. Das Merkblatt soll jetzt überarbeitet werden. Und auch der BK-Report 3/99 wurde nach unüblich kurzer Zeit von den Berufsgenossenschaften aus dem Verkehr gezogen. Hier soll eine Neufassung „noch in der ersten Jahreshälfte“ in Druck gehen, so der damalige und heutige Report-Koordinator Thomas Köhler von der BG Chemie in Heidelberg.

Verfehlungen oder gar eine Gutachtermisere werden von den BGen natürlich aufs Heftigste bestritten. Es entspreche alles dem rechtlich vorgeschriebenen Rahmen. Die Kritik der Geschädigtenverbände immerhin ist bei Thomas Köhler angekommen. Davon werde sich „in kleinen Nuancierungen“ auch im neuen BK-Report etwas wiederfinden. Hier käme eventuell „eine gewisse Öffnung“ in den Report, meint er.

Die Geschädigten würden sich über eine Anpassung an internationale wissenschaftliche Erkenntnisse freuen. Doch angesichts einer politischen Aufsicht, die auf keinen Fall der Industrie Kosten verursachen will, glauben die Initiativen noch nicht an eine wesentliche Änderung.

So läuft denn der Kriminalfall „BK 1317“ weiter und weiter. Wie bei jedem Krimi bleiben durch die zeitliche Verzögerung Menschen auf der Strecke. „Die arbeiten an einer biologischen Lösung“, so Peter Röder von der IkU. Und in den Betrieben werden die meisten schädigenden Stoffe weiter verwendet wie bisher – der finanzielle Schaden für die Unternehmen ist ja gering. Wenn was passiert, wird es die BG schon richten.