Wie ein Märchen

Als Ersatz für Handball-Nationalheld Stefan Kretzschmar zu gelten, findet HSVer Torsten Jansen „Blödsinn“. Jetzt kam er bis ins EM-Finale

aus LjubljanaErik Eggers

Gern möchte Torsten Jansen diese eine Szene von der Festplatte seiner Erinnerung löschen. Es ist das letzte deutsche Vorrundenspiel bei der 6. Handball-Europameisterschaft in Slowenien, Sekunden vor Schluss führen die Deutschen mit einem Tor. Hektik und Panik regieren das Spielfeld. Da übernimmt „Toto“, wie der Linksaußen des HSV nur genannt wird, in Unterzahl den Ball und stürmt Richtung gegnerisches Tor. Er will die endgültige Entscheidung. Von zwei Franzosen in die Zange genommen, verliert er jedoch den Ball, im Gegenzug fällt der Ausgleich. Die Mannschaft ist zerstört, weil es mit nur einem Punkt in die Hauptrunde geht. Die EM scheint gelaufen. „Das war ein Alptraum“, sagt Jansen später, „aber ich würde es genau so wieder machen“.

Dass er eine derart große Verantwortung übernehmen würde, hatte vor dem Turnier keiner geahnt. Jansen wurde nominiert als Ersatz für den verletzten nationalen Handball-Helden Stefan Kretzschmar, dessen Position er sich mit Heiko Grimm (TV Großwallstadt) teilen sollte. Er wirkte unsicher und zurückhaltend in den letzten Vorbereitungsspielen, suchte im Angriff nur selten den Zweikampf. Dann, bei der 26:28-Niederlage im ersten EM-Spiel gegen Serbien-Montenegro, explodierte Jansen geradezu: Aggressiv und furchtlos setzte er sich durch und avancierte zum besten Feldspieler der insgesamt enttäuschenden Deutschen. Seitdem spielte er fast durch. Das bei Redaktionsschluss noch andauernde EM-Finale gegen Gastgeber Slowenien ist sein achtes Spiel in elf Tagen. Bundestrainer Heiner Brand gewährte ihm nur kleine Spielpausen, denn Grimm, der zweite Linksaußen, litt an einer schmerzhaften Beckenprellung.

Es ist in diesen Tagen viel die Rede davon, dass die körperliche Belastung für die Profis zu hoch sei, die Verletzungen sprechen Bände. Vor dem Endspiel, dem größten Auftritt seiner Handballkarriere, aber sagt Jansen: „Mein Körper streikt noch nicht, aber ich bin ganz schön fertig.“

Überhaupt hat er sich in seine schwierige Rolle eingefunden. „Als Kretzschmar-Ersatz zu gelten“, sagt Jansen, „ist ein großer Druck und eigentlich Blödsinn. Denn einen Typ wie Kretzschmar gibt es nur einmal.“ Längst eine Marke, ein Idol, setzt der Magdeburger gezielt die Medien ein, spielt mit ihnen, gebärdet sich als Handball-Punk, ist mit dem Schwimmheros Franziska von Almsick zusammen. Wenn einer das krasse Gegenteil davon ist, dann Jansen: So still wie sonst keiner in der aktuellen Nationalmannschaft, redet er leise, fallen die Antworten knapp aus, und sein Auftreten ist geradezu schüchtern. Er versucht nicht aufzufallen und schaut oft zu Boden. Doch ist sein Selbstbewusstsein in den letzten Tagen spürbar gewachsen. Das liegt auch an der Kollegialität innerhalb der Mannschaft, die ihn nach seinem großen Fehler gegen Frankreich nicht kritisierte. „Das hat gut getan“, sagt Jansen.

Fast scheint vergessen, dass er in den letzten zwei Jahren nicht für Deutschland aufgelaufen ist. Da trat er zurück, weil er sich zunächst in seinem damaligen Verein HSG Nordhorn zurechtfinden wollte. Außerdem sah er keine Möglichkeit, an Kretzschmar vorbeizukommmen. Doch nun, da dieser kurzfristig ausfiel, erinnerte sich Bundestrainer Brand an Jansens Anruf aus dem Herbst 2003, wieder zur Verfügung zu stehen. Dass er nun so durchstarten würde, hätte freilich auch Brand nicht gedacht. Nicht nur, dass Jansen nach vorn immer Torgefahr entwickelt, auch in der Abwehr spielt der HSVer eine wichtige Rolle. „Dafür, dass er in Hamburg ein sehr viel offensiveres Deckungssystem spielt“, lobt Abwehrfanatiker Brand, „macht Toto seine Sache sehr gut.“

Nebenher zum Profi-Handball studiert der 27-Jährige mit dem famosen Wurfreportoire übrigens Politik und Geschichte an der Fernuniversität Hagen. Er weiß also, wie schwer es ist, größere Spuren zu hinterlassen. Seine Teilnahme am gestrigen EM-Finale ist für den stillen Jansen aber schon mehr als nur eine Fußnote in der Geschichte einer Sportart. Ein bisschen es ist für ihn, den vor diesem Turnier nur Kenner würdigten, wie ein Märchen.