Berliner Schüler sagen Nein

Über 50.000 Schüler streiken am Tag X und gehen auf die Straße. Einige Schulen besuchen geschlossen die Demonstration vom Alexanderplatz zur Siegessäule, andere verbieten Teilnahme

von JULIANE GRINGER
und INA KÖHLER

Tag X, 10 Uhr: In der U 8 zum Alexanderplatz sitzen fünf Schüler aus Kreuzberg. „Noch nicht viel los“, stellt ein Mädchen fest. „Nachher sind wir die einzigen“, kichert sie: „Demo zu fünft“. Über 50.000 Schüler werden nur wenige Stunden später auf die Straßen Berlins gehen. 20.000 mehr als beim letzten Golf-Krieg.

10.15 Uhr: John-Lennon-Gymnasium, Mitte: In der Schule ist es still, trotz Pause. „Die Schüler sind schon los“, stellt Direktor Jochen Pfeifer fest. Er dürfe ihnen nicht erlauben, zur Demo zu gehen, Fehlstunden werde er aber auch nicht eintragen. Die siebten bis neunten Klassen müssten dableiben, sonst drohe Tadel.

10.30 Uhr: U8 kurz vorm Alex: „Gehst du noch mal in die Schule“, fragt eine Brünette ihre Freundin. Wie lange dauert so eine Demo eigentlich? Der Zug hält. Aus allen Wagen gleichzeitig strömen aufgeregte Schüler mit Trillerpfeifen, ein dicker Wust drängt zum Ausgang. Viele fassen sich an den Händen, damit sie sich im Gedränge nicht verlieren. Draußen am Alex wartet ein überwältigendes Bild. Tausende laufen zur Mitte des Platzes, die Weltzeituhr ist von einigen mutigen Klettern schon besetzt worden. Viele haben das Peace-Zeichen im Gesicht gemalt oder auf dem T-Shirt. Rufe, Plakate, Transparente: „Make tea, not war“ oder „Wir wollen euren Krieg nicht!“

Der Schülerprotest ist perfekt organisiert. Sogar eine Pressesprecherin hat die Gruppe „SchülerInnen gegen Krieg/Widerstand international“ benannt. Vivien Hellwig hat beobachtet, dass Schüler durch militärische Konflikte wie den Irakkrieg zunehmend politisiert werden und einen Zusammenhang zwischen Rüstungs- und Bildungsetat herstellen: „Wir sitzen zu 35 in einer Klasse und abeiten mit Büchern, in denen die DDR noch existiert. Wie sollen wir da später auf dem Arbeitsmarkt bestehen?“

Die 17-jährige Lee war schon bei Demos gegen den Irakkrieg dabei. Mit ihren Freunden Luzi und Rafael ist sie aus Charlottenburg zum Alex gekommen. „Hilflosigkeit“, sagt Rafael, sei das, was Jugendliche wie er jetzt empfinden, am Tag X. Lee meint: „Die deutsche Regierung hätte mehr gegenhalten müssen. Schließlich gehen Leben drauf.“ Als sie zur Demo wollten, hätten ihre Lehrer sie unterstützt, erzählen sie.

Bildungssenator Klaus Böger (SPD) hatte am Mittwoch durch seinen Sprecher verlauten lassen, es sei „die Entscheidung jeder einzelnen Schule, ob sich Schüler während des Unterrichts an Demonstrationen beteiligen dürfen“. Einige Schulen wie das Herder-Gymnasium in Lichtenberg oder die Gerhart-Hauptmann-Oberschule in Köpenick machten sich daraufhin geschlossen auf zum Alexanderplatz. Andere erlaubten die Teilnahme erst ab Klasse 10. Egal ob Ost- oder Westberlin, Haupt- oder Oberschule: aus Dahlem, Charlottenburg, Treptow und Hellersdorf strömten die jugendlichen Teilnehmer. Zwölfjährige aus der siebten Klasse und Fachoberschüler über 20 vereint das gleiche Ziel: sie wollen ein Zeichen gegen den Krieg setzen.

Buck Fush“, ruft eine Gruppe Steppkes. Sechs bis vierzehn Jahre alt sind die Schüler der Freien Schule Pankow. „Ich finde Krieg Scheiße, deswegen bin ich hier“, sagt Lino, neun Jahre alt. Den „Buchstabendreher“ bei „Buck Fush“ erklären Vicky, Jule und Lena: „Wir wollen nicht unhöflich sein.“ Jamila Malik hat Angst, dass der Krieg die Kinder trifft. Zur Demo ist sie mit ihrem neun Monate alten Sohn Justin gekommen. „Ich hab mit Freundinnen telefoniert. Alle haben geweint.“

Kurz nach 11 Uhr geht es los. Die Menge bewegt sich Richtung Karl-Liebknecht-Straße und Unter den Linden. „Auf zur amerikanischen Botschaft“, haben einige gerufen. Die Demonstranten sind euphorisch, laufen schnell und formieren sich zu dicken Trauben. Die Polizei sperrt ab. Es kommt zu Staus.

Viele haben von Mitschülern erfahren, dass seit dieser Nacht Krieg im Irak herrscht, die Eltern haben sie mit der Nachricht geweckt, oder das Radio hat es zum Frühstück erzählt. „Wir sind voll gegen den Krieg“, ruft der 16-jährige Sebastian als Statement über die Straße. Sein Kumpel Niko meint: „Die hätten die Waffeninspektionen noch ausweiten können.“ Religionslehrerin Anette Nouri blickt stolz über ihre Schüler. Die Nikolaus-August-Otto-Hauptschule in Steglitz ist geschlossen zur Demo gekommen. Im Unterricht war der Irakkrieg Thema, erzählt Nouri: „Die Jugendlichen waren betroffen und haben geweint, heute sind viele in Schwarz gekommen.“

An der Humboldt-Uni steht der Verkehr still. Touristen stehen vor den Bussen und machen Fotos. Der Fahrer der Linie 100 bleibt gelassen: „Demos haben wir hier so oft.“ Dann muss er einem Kollegen helfen, dessen Wagen zu verteidigen. Ein Werbebanner darauf zeigt Schröder, Fischer und Bush, so als würden sie hintereinander im Bus sitzen. Reihenweise rennen Jungs hin, bespucken Bush. Auf dem Asphalt bildet sich eine Pfütze.

12.10 Uhr, US-Botschaft: Etwa 100 Schüler sitzen auf der Straße, einer schreit heiser ins Megafon. An ihnen vorbei zieht der Strom weiter Richtung Brandenburger Tor und Siegessäule, einige bleiben an der Botschaft.

13 Uhr, Siegessäule: Richtung Osten zeigt sich das gleiche Bild wie am Vormittag am Alex: Tausende Schüler stehen dicht an dicht. Die Polizei hat Probleme, die Straßen zu sperren, damit die Teenager nicht weiterziehen.

13.20 Uhr, Tiergarten: „We need trees, no Bushs“ – Florian aus Zehlendorf hat mit seinen Freunden spontan eine Menschenkette rund um den großen Stern initiiert. Hunderte fassen sich an den Händen. „Ich fand gut, dass so viele unterwegs waren“, sagt Florian über die Demo. „Aber manche Sprüche waren zu krass.“ Langsam löst sich die Menge an der Siegessäule auf. Viele ziehen zurück zum Brandenburger Tor. Unter den Linden ist noch kurz vor halb drei ab Friedrichstraße gesperrt, weil die Schüler vor der amerikanischen Botschaft ausharren.