Das Ende aller Stilmittel

Shock and Awe: Der Literaturwissenschaftler Peter Bürger fragte an der Humboldt-Universität nach den Möglichkeiten moderner Kunst sich mit dem Ereignis eines Weltkrieges auseinander zu setzen

VON JAN SÜSELBECK

„Die Schönheit wird konvulsivisch sein, oder sie wird nicht sein.“ Dieses aufrüttelnde ästhetische Diktum des französische Surrealisten André Breton hat im tristen Senatssaal der Humboldt-Universität einen merkwürdigen Klang. Die hässlichen Kronleuchter verbreiten ein dämmriges Licht, das von den braunen, holzgetäfelten Wänden verschluckt wird. Irgendwo vorne murmelt eine Frau undeutliche Ankündigungen. Man fühlt sich wie ein Statist in einer der legendären Volksbühnen-Inszenierungen Christoph Marthalers. Und möchte am liebsten gleich einschlafen.

In diesem Moment tritt Peter Bürger auf, emeritierter Professor für Literaturwissenschaft und ästhetische Theorie der Universität Bremen und Verfasser der in viele Sprachen übersetzten Vorzeigestudie „Theorie der Avantgarde“ (1974). Bürger, ein schmächtiger, aber überraschend jung wirkender Mann mit vollem dunklem Haar, beginnt laut und sehr schnell zu reden. Im Rahmen der „Mosse-Lectures“ spricht er seinen Vortrag „Kunst und Ereignis. Versuch über die konvulsivische Schönheit“ ins Mikro, das ab und zu mit seinen gestikulierenden Händen kollidiert und knackende Laute von sich gibt.

Die beeindruckende Energie, mit der Bürger dem müden Saal Leben einhaucht, scheint mit seinem Thema zusammenzuhängen. Er fragt mit Bréton nach dern Möglichkeiten moderner Kunst, sich dem schockhaften Ereignis des Ersten Weltkriegs ästhetisch gewachsen zu zeigen. In schneller Folge zitiert er Walter Benjamin, Rainer Maria Rilke und Ernst Jünger, um den furchtbaren Epochenumbruch, als den die Künstler das Hereinbrechen des Kriegs seinerzeit erfuhren, zu umreißen.

Jünger, Militarist und begeisterter Frontkämpfer, genoss den Kampf als „praktizierten Nihilismus“, mit dem man „das 19. Jahrhundert in Grund und Boden geschossen“ habe. Doch nicht jeder begrüßte diese totale Destruktion so wie Jünger. Benjamin sprach vom schutzlosen Individuum, das sich, nachdem es als Kind noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war, plötzlich in einer komplett ins Zerstörerische gewandelten Welt wiederfand, in der allein noch die Wolken im Himmel gleich geblieben waren. Künstler wie Bréton reagierten auf die explodierende Gewalt, vor der alle bisherigen Erfahrungswerte versagen mussten, mit dem Rückzug ins Ich. Die subjektive Kreativität wurde als einziges verbliebenes Mittel der Selbstbehauptung begriffen.

Peter Bürger bekennt sich zur „romantischen Idee“ eines modernen Individuums, das sich mittels „momentaner Stillstellungen im Kunstwerk“ artikulieren könne. Die postmoderne Rede vom Tod des Autors weist er damit zurück. Zur Veranschaulichung solcher Spielräume der ästhetischen Selbsterforschung wendet er sich drei Malern zu, die traumatische Erfahrungen des Ersten Weltkriegs zum Thema ihrer Gemälde machten: Ernst Ludwig Kircher, Otto Dix und Max Beckmann.

Kirchner, der sich vergeblich durch übermäßigen Absinth-Konsum wehruntauglich zu machen versuchte, thematisiert in seinem „Selbstbildnis als Soldat“ (1915) seelische und körperliche Kriegsverstümmelungen, die realistisch nicht mehr wiederzugeben sind. Der rechte Arm des Soldaten ist hier nur noch ein blutiger Stumpf. Sein gelbes Gesicht erinnert an eine Totenmaske. Kirchner griff hier noch einmal auf jene manieristischen Verzerrungen der Perspektiven zurück, die er für seine hektischen Großstadtszenerien vor dem Krieg entwickelt hatte. Die Einheit des Raums ist zerbrochen und stößt den Betrachter in Verstörung und Desorientierung. Doch das Bild wirkt bereits wie von der Ahnung durchzogen, dass auch diese Stilmittel im Angesicht des Kriegs am Ende seien. Auch Otto Dix, der den Krieg als Anführer eines Maschinengewehrtrupps erlebt hatte, und Max Beckmann, der sich als verängstigter Sanitäter selbst porträtierte, hielten das Erlebte nicht mehr für realistisch darstellbar. Das Kriegsgeschehen selbst ist auf ihren Bildern ausgespart. Nicht die Kampfhandlungen wollte Dix zeigen, sondern die Zustände, die sie in den Individuen hervorgerufen hatten. Beckmann versuchte fortan, das „schaurig zuckende Monstrum“ des Lebens mittels fester ästhetischer Konturen zu bannen.

Bürgers optimistischer Glaube an eine ästhetische Emanzipation zwischen Selbstbehauptung und Selbstnegation bestimmt den Abend. Doch am Ende bleibt die bei Adorno formulierte Ahnung stehen, dass vor dem Grauen der Shoah auch noch diese letzte Nische der Kultur zuschanden wurde. Und dann gehen im Senatssaal die Lichter aus.