Moder und Laub

Viele Wege führen nach Rom, durchs Leben und zurück in die Kindheit: „Montgomery“, dem neuen Roman von Sibylle Lewitscharoff, liegt detailliertes Kartenmaterial zugrunde

Wenn Sibylle Lewitscharoffs neues Buch ein ICE und die Lektüre eine längere Zugfahrt wäre, hieße es wahrscheinlich: „Weitere Informationen finden Sie im Reiseplan.“ So gibt es immerhin einen Romanplan zu Lewitscharoffs „Montgomery“, den der Verlag auf Nachfrage zuschickt – ein ziemlich großes Blatt Papier mit Fotos, Kunstpostkarten, Hand- und Maschinengeschriebenem und verstreuten kleinen Fußspuren, die auf einen Gang durch die Stadt Rom und einen Weg in die Geschichte des Erzählers verweisen. Rechts oben auf diesem Romanplan sind die Figuren der Handlung beschrieben. Die Paarbeziehungen zum Beispiel, römisch I und römisch II.

Aha. So arbeiten also Schriftsteller. Beim Literaturschaffen fällt offensichtlich auch immer mal wieder Kunsthandwerk ab. (Hoffentlich gab es auch noch einen anderen, nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Plan.) Dass das zugehörige Buch durchstrukturiert ist wie ein Setzkasten, fällt auch ohne diese DIN-A1-Anleitung ziemlich schnell ins Auge. Anders ging es wohl nicht. Hauptfigur von „Montgomery“ ist der Filmproduzent Montgomery Cassini-Stahl, ein in Stuttgart geborener Halbitaliener, der in Rom einen Film über Joseph Süß Oppenheimer betreut. Was Cassini-Stahl in den wenigen verdichteten Tagen des Romanausschnittes alles erlebt: Als der Schauspieler Frank Sheeler, der für die Hauptrolle engagiert ist, nicht zum Dreh erscheint, springt Cassini-Stahl ein und denkt dabei über die Zehn Gebote und den Nationalsozialismus nach.

Einem jungen holländischen Filmemacher spannt er die Freundin aus. Er telefoniert morgens mit seiner Mutter, geht ins Büro, besucht mittags seinen römischen Onkel, begrüßt eine Delegation aus England, blockt Bittsteller ab, fährt ans Set und sucht mit seinen Kollegen nach Sheeler. Abends kann er schlecht einschlafen. Vielleicht hat Cassini-Stahl als Kind seinen behinderten Bruder ins Schwimmbecken geschubst. Auf jeden Fall erleidet er am Ende einen Herzanfall und stirbt, mitten in der heiligen Stadt. Nach langen inneren Monologen. Der christliche Produzent eines Jud-Süß-Filmes, der kainmäßig seinen Bruder ermordet haben soll. Es ist viel, so viel! Und das alles in einer Woche. Cassini-Stahls Mutter hat übrigens einen Dackel. Und einen Gärtner. Aber jetzt ist Schluss.

Lewitscharoff ordnet ihr Material nach mehreren Prinzipien. Jeden Tag lässt sie mit einem neuen Kapitel beginnen. Den ständigen Wahnsinn im Leben ihrer Hauptfigur hat sie nicht nur in einen Romanplan und zwischen zwei Buchdeckel gesteckt, sondern auch in den Klammergriff eines teigigen Klassenkameraden. Er beschließt anfangs, sich in Cassini-Stahls Leben einzufühlen und besucht am Ende die Mutter.

Schließlich lässt Lewitscharoff die vielen Personen der Handlung schön nacheinander, im Gänsemarsch auftreten, jeden mit einer ausgedehnten Charakterisierung: zuerst Pasqualina, die Haushälterin, dann die einzelnen Mitarbeiter. Das holländische Paar. Den Chauffeur, den Onkel, den Schauspieler Ettore.

Sibylle Lewitscharoff vergisst nichts. Nichts! Nicht die Spitznamen, die Familie und Schulfreunde für Montgomery hatten. Nicht die Art und Weise, wie sie Cassinis Früchstücksbrei beschreibt, immer wieder. Nicht, wie die Szene mit dem Schnee gedreht wurde und was später daran kritisiert werden kann. Und auf keinen Fall, dass die todkündenden Brustschmerzen ja zu rechter Zeit erwähnt werden müssen!

Wenn man mäkelig wäre, würde man sagen: Das Buch quillt über, und außerdem hat es alles unter Kontrolle. Oder: Der Stil ist verschroben, die Verben bleiben schwach, und immer mal wieder springen einzelne Worte fast aus den Sätzen heraus: „Von einem Bogen, der die Straße überspannte, hing die melancholische Haartracht einer Kletterpflanze fast bist zum Boden herab. Aus einem fischmäuligen Kopf floss Wasser.“

Dagegen steht, wie natürlich Lewitscharoff manche Abschweifungen anknotet. Am besten gelingt das, als Cassini-Stahl seinen Onkel besucht: „In der Wohnung empfing ihn eine frische dunkle Kühle.“ Die beiden beginnen sich zu unterhalten: Die Eltern. Der Bruder. Damals, jetzt. Rom, Stuttgart. Das Mittagessen, später der Kaffee. Der Erzähler blendet sich ein.

Diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die das Denken und Schweifen in Lebens-Geschichten nun einmal prägt, schafft hier ganz plötzlich eine Authentizität, die vielen anderen Passagen des Romans trotz aller Detailfülle abgeht. Mit „aufgerissenen Augen“ liegt Cassini-Stahl am Ende da, „drei Polaroids in der Tasche, seine Manschettenknöpfe, einen Schlüssel, ein Zündholzbriefchen und sonst nichts“. In Stuttgart tritt der Klassenkamerad nach dem Gespräch mit der Mutter an das Schwimmbecken. Einwandfreie letzte Sätze: „Der Beckenanstrich ist abgeblättert, die Wände haben Moos angesetzt, eine dicke Schicht aus Moder und Laub deckt den Grund.“ CHRISTIANE TEWINKEL

Sibylle Lewitscharoff: „Montgomery“. DVA, Stuttgart 2003, 352 S., 19,90 €