Eine Frage des Standpunkts


„Kein Quadratmeter der Deponie liegt auf unserem Gebiet“, sagt Schönbergs Bürgermeisterin

AUS SCHÖNBERG JAN FREITAG

Alles eine Frage der Windrichtung. Wenn er aus dem Osten weht, erklärt Jens Dreier und dreht die Nase zum Sportplatz, „schließen wir im Sommer nachts das Fenster, so riecht’s hier“. Oft passiert das indes nicht – an deutschen Küsten regiert Westwind. Wo Jens Dreier wohnt, in der mecklenburgischen 2.200-Einwohner-Gemeinde Selmsdorf am Westrand der größten Sondermülldeponie Europas, treibt einen der Gestank folglich selten aus dem Schlaf.

Ganz anders Heidemarie Frimodig. „Bei günstigem Wind“, klagt die Schönberger Heimatkundlerin, „stinkt’s hier wie die Pest.“ Und zwar ständig. Ihren Arbeitsplatz, das Heimatmuseum, trifft die volle Breitseite aus 15 Millionen Tonnen Müll. Die Kleinstadt liegt ein paar Meter östlich jener Kippe, die seit genau 25 Jahren für Stunk sorgt.

Also alles eine Frage des Standorts. Haat-Hedlef Uilderks und Günter Wosnitza sitzen in Lübecks Altstadt, 17 Kilometer von der Deponie Schönberg entfernt, und reden übers Jahr 3004. Ob das Sickerwasser der Deponie dann oder heute die Brunnen verseucht, macht für ihre Bürgerinitiative „Stoppt die DeponieSchönberg“ keinen Unterschied. „Der Einbruch ist sicher“, sagt Uilderks. Er ist Selmsdorfer, Geigenbauer und zitiert inmitten gediegener Instrumente hydrologische Studien. „Die Katastrophe kommt so oder so“, sagt er. Schon der Normalbetrieb ist „ein permanenter Störfall“, ergänzt sein Mitstreiter Wosnitza, der Lübecker. Der Betreiber der Deponie, die Ihlenberger Abfallentsorgungsgesellschaft (IAG), dementiert das natürlich. Und natürlich kann sie auch das belegen. Seit 14 Jahren bombardieren sich beide Parteien mit Gutachten.

Alles auch eine Frage des Standpunkts. Die 165 Hektar große Kippe ist eben mehr als ein Firmengelände. Sie bringt Struktur in die Region und gefährdet ihr Grundwasser. Sie sorgt in einem Landkreis mit 15 Prozent Arbeitslosigkeit für Jobs und belastet die Straßen mit Schwerverkehr. Sie ist wichtigster Steuerzahler der Gegend und ihr größter Risikofaktor. Sie hilft Vereinen, Gemeinden, Institutionen und belastet Boden, Luft, Menschen. Mit einem Wort: Sie ist ein Politikum.

Und zwar seit jenem 30. Januar 1979, als das SED-Politbüro auf seiner Suche nach Devisen den Müllhandel entdeckte und die Gründung dieser Deponie beschloss. Die Fahrer der ersten Laster mit Westabfällen spielten da am Grenzübergang Schlutup bereits mit dem Standgas. Beide Seiten hatten es eilig: Im Westen quollen die Halden über, im Osten schrumpften die Devisen. Dafür gab es Reservate unberührter und vor allem unberührbarer Natur: das Sperrgebiet.

Im Mai des Vorjahres hatte die Abteilung Kommerzielle Koordination (Ost) zwischen Selmsdorf und Schönberg nach Kies gegraben. Da sich keiner fand, beschied man dem Areal Deponietauglichkeit. Kein Wunder, hatten an der Bohrung doch die Gründer des Hanseatischen Baustoffkontors (West) teilgenommen. Jenes Unternehmen, das die Deponie unter Führung des Schwartauer Müllmultis Adolf Hilmer mehr oder weniger bis 2002 betrieben hat – und ständig in die Schlagzeilen brachte.

Aber damit soll natürlich Schluss sein. „Sehen Sie, wie das dampft“, ruft Heyo Stormer fröhlich. Vor ihm walzen riesige Bagger frischen Unrat platt. „Im Hausmüll fängt es nach 15 Minuten an zu arbeiten“, erzählt er auf seiner Sightseeingtour über die Deponie. Märchenreise nennen das die Gegner. Öffentlichkeitsarbeiter à la Stormer sagen dann Sachen wie: Es gibt nichts zu verbergen. Oder: Die Neudeponie ist auf dem Stand der Technik. Stormer, selbst Anwohner, vergleicht seinen Arbeitsplatz mit einem Laboratorium: „Wenn hier was Ätzendes auskippt, landet es auf dem Labortisch.“ Falls doch mal was daneben geht, landet es eben auf dem Laborboden, eine Schicht aus Ton, Kalk und Sand. „Eine Naturbarriere“, sagt Stormer. Hunderte Meter soll sie dick sein.

Stormer kann das alles ganz genau erklären – an einer Glassäule: 150 Zentimeter Geschiebemergel mit einer Spezialfolie samt geotextilem Schutzvlies, darüber befahrbare Drainagerohre. „Besser geht’s nicht!“, sagt er. Die Neudeponie findet sogar bei Kritikern Zuspruch. Alles kontrolliert, überall Hightech, moderne Wasserreservoire und Messpunkte. Auch davon hat er ein Modell. Ein Feuchtbiotop erscheint auf Knopfdruck als Dia an der Wand.

Vom alten Teil der Deponie hat er kein Dia. Die Urkippe war zu DDR-Zeiten, das gesteht selbst Stormer, nur unzulänglich geschützt. Aber fahrlässig? Nein, das könne man nicht sagen. Sie sei bestens „nachgesichert“ worden und heute kaum mehr auszumachen. Da bedarf es keines Dias. Im Modell blinkt dafür die Siedlungshalde, die mit der dampfenden Neuware, wo sich der Wohlstandsrest auf 115 Meter Höhe türmt – eine der höchsten Erhebungen Mecklenburg-Vorpommerns.

Darüber kreisen tausende von Möwen. Hier und da stößt eine in den Haufen. Angelockt von Farben, nicht vom Inhalt, sagt Stormer. Der Berg verursacht einen üblen Geruchsmix aus Penicillinblähung, Urinstein und alten Safttüten. Und ist ein toxischer Cocktail: Zwei Drittel der angelieferten Ware bestand damals wie heute aus genehmigungspflichtigen Industrieabfällen. Nur dass damals niemand genau wusste, was da von den Lastern gekippt wurde. Es waren Klärschlacken, kontaminierte Böden, arsenhaltige Schlämme und ein schwelender Verdacht: 41 Dioxinfässer aus Seveso.

Früher erzählten Fahrer westdeutschen Reportern Storys von wild verklappten Giften. Im Osten herrschte Stillschweigen. Helmut Politt kann sich gut erinnern. Er macht eine wegwerfende Geste. „Das waren Nacht-und-Nebel-Aktionen“, sagt der Schönberger Ureinwohner. Früher hat Politt oft auf der Deponie gearbeitet, er war Maurer. „Was genau da kam, wusste niemand.“ Es sei auch kaum darüber geredet worden. Er schaut zu Boden, als hörte die Stasi noch zu. „Mit Geld geht eben alles“, sagt er.

Lange vor der Wende berichteten Insider über Machenschaften, die selbst nach DDR-Recht illegal waren. Und während die Verantwortlichen beiderseits der Grenze von Reibungslosigkeit sprachen, erwog Lübeck bei einem Brand vor 16 Jahren sogar die Evakuierung ganzer Vororte. Die Bürgerinitiative listet bei Bedarf weitere Havarien auf und 18 krebskranke Deponiearbeiter.

Auch wenn die Firmenleitung vieles bestreitet: Bis in die Neunziger herrschte offenbar Entsorgungsanarchie. Heute wird besonders um die Vergangenheit gezankt. Ein Streit um Expertisen. „Wir haben Gutachten, die eine Schließung rechtfertigen“, klagt der Vorsitzende Haat-Hedlef Uilderks, „aber auch einen Gegner, der unendlich viele Gegengutachten in Auftrag geben kann.“ Der Jurist der Initiative, Detlef Winter, hat noch ein anderes Problem: Alle Unterlagen aus der Zeit vor 1990 liegen im Archiv der Betreiber. Aus dem Schweriner Umweltministerium heißt es: „Nur unter sehr strengen rechtlichen Bedingungen kann die Firma zur Herausgabe gezwungen werden.“ Da fragt sich Winter, was „das mit Demokratie zu tun hat“.

Der Ton ist rau geworden. IAG-Chef Gerd-Jürgen Bruckschen droht Verleumdern mit Strafanzeige, seine Gegner wittern mafiose Strukturen. Tiefe Gräben auch im Deponiebeirat, den der Landesumweltminister vor drei Jahren einrichten ließ. Dort sollen Betreiber und Gegner mit Kommunalpolitikern und Umweltverbänden für Transparenz sorgen. Theoretisch. „Ich lasse mich nicht beschimpfen“, sagt der Deponiechef. Er ist ausgetreten. Selmsdorfs Bürgermeister, der den Großteil seiner Gewerbesteuern bei der IAG eintreibt, boykottiert das Gremium ohnehin von jeher. Dabei kann er sich nicht beklagen. Welche Gemeinde dieser Größe hat durchweg gepflasterte Fußwege und Anwohner, die keinen Cent dazubezahlen mussten, 40 Prozent Bevölkerungszuwachs und zwei Neubaugebiete?

Blitzsauberes Selmsdorf: Speckgürtel, Wohnoase und Industriegebiet in einem. Auf der anderen Seite der Deponie: Schönberg, das seine Finanzmisere nicht mal im Ortskern verbergen kann, das sich bei nur 4.500 Einwohnern ein kapitales Plattenbauviertel und Leerstand am Rathaus leistet. Und schließlich Lübeck, Hanseperle mit Unesco-geschützter Altstadt, deren Bürgerschaft jede Mülllieferung nach Osten verhindert und mit der Deponie Niemark ihre eigene Altlast unterhält.

Alle verbindet die IAG, doch Schönberg leidet eben etwas mehr. „Die haben die Steuern, wir den schlechten Ruf“, sagt die Heimatkundlerin Frimodig. Und das auch noch zu Unrecht. „Kein Quadratmeter Deponie liegt auf unserem Gebiet“, wettert die Bürgermeisterin von Schönberg. Einige Leute aus dem Ort haben darum eine Kampagne gegen die Bürgerinitiative gestartet. Deren Name schade dem Image der Stadt. Bis 1990 hieß die Deponie eben offiziell „VEB Deponie Schönberg“. Sie stinkt bis heute. Sie bringt 126 Jobs plus Struktur und ist Gewöhnungssache. Alles eine Frage von Windrichtung, Wohnort und Standpunkt.