Das Kraftfutter der DJ-Kultur

„Alles, was wir getan haben, war zu grooven“: Was er gesät hat, treibt zyklisch neue Blüten – ohne Roy Ayers kein Disco, kein HipHop und kein House. Ein Album mit unveröffentlichten Songs lädt nun ein, den Meister aller Klassen ganz neu zu entdecken

VON UH-YOUNG KIM

Roy Ayers sei gut drauf, versicherte die Promoterin den wartenden Journalisten in Köln. Im Lichte seines positiv schwingenden Sounds verwundert das nicht weiter. Der Wirbelwind, der kurz darauf aus dem Interviewzimmer springt, überbietet aber alle Erwartungen an eine über sechzigjährige Jazz-Koryphäe. Ayers tritt auf, als sei er gerade aus einem Blaxploitationfilm gestiegen: slickes Oberlippenbärtchen, silbernes Kettchen, schwarze Lederjacke – und dazu eine Jogginghose.

Keine Zeit für starre Ehrfurcht vor der lebenden Legende – Herr Ayers sprudelt los und wird nicht müde zu verkünden, wie glücklich er sei und wie lebendig er sich fühle: „I’m still kickin’, man!“ Zurzeit begeistert er sich dafür, dass Stücke, die er in den Siebzigerjahren produziert hat, jetzt erstmals veröffentlicht werden: „Ich wusste, dass das gutes Material war, aber nicht, dass es so baaad war.“

Nicht nur die euphorische Art, mit der er sich vom Sonnendeck aus an seinem Leben erfreut, unterscheidet ihn von den (Anti-)Helden des Jazz. In seinem Gesicht finden sich keine Spuren von Exzessen, die Stirn ist glatt und die Augen funkeln. Dem seit dreißig Jahren glücklich verheirateten Ayers fehlt das Existenzielle und Radikale von Miles Davis oder Charlie Parker. Zudem war er als Jazz-Vibraphonist ohnehin ein Außenseiter unter Außenseitern. Der quicklebendige Berufsoptimist hätte zum Mythos des leidenden, schwarzen Protestmusikers allenfalls als brav assimilierte Antithese gepasst.

Erst die DJ-Culture hat die Heilkraft seiner Rhythmen erkannt und sie von House und HipHop bis Neo Soul und Fusion Breakbeats weiter entwickelt. Lange nach dem Höhepunkt treibt sein Sound so zyklisch neue Blüten hervor und vermag noch heute jeden Dancefloor in Glückseligkeit zu tauchen. In Jazz-Fachlexika dagegen finden sich – wenn überhaupt – nur ein paar Zeilen über den Fusionisten mit dem langen Atem, gefolgt von mindestens zwei Spalten zu Ehren des Free-Jazz-Heiligen Albert Ayler.

Ayers und Ayler bildeten am Morgen nach der Bürgerrechtsbewegung zwei Pole einer auseinander fallenden Musikkultur. Politisch wird der urgewaltige Free Jazz mit den black nationalists der späten Sechziger assoziiert. Fusion Jazz dagegen feierte den Pluralismus des sich öffnenden Mainstreams in der Hoffnung auf ein einträglicheres Leben nach den Umbrüchen.

Den Keim für die Durchlässigkeit und Anpassungsfähigkeit von Ayers’ Sound setzte der Flötist Herbie Mann. Dieser engagierte den damals 16-Jährigen für seine Band, die den Smooth Jazz der Westküste mit Popelementen vermischte. 1966 verließ Ayers Los Angeles gen New York. An der Seite von z. B. Herbie Hancock und Chick Corea wurde er dort zum sichtbarsten Vibraphonisten seiner Zeit. Als sich die Stilexperimente von Fusion Jazz in Folge von Miles Davis’ Album „Bitches Brew“ ausbreiteten, verlor die Free-Jazz-Bewegung mit dem Tod von John Coltrane ihr Zentrum. Im Sommer 1970, in dem Albert Ayler ertrunken im East River gefunden wurde, gründete Ayers seine eigene Band Ubiquity.

Während der Spaltung der Bürgerrechtsbewegung, der Eruption von Rassenunruhen und dem Aufkommen einer schwarzen Mittelschicht waren Free und Fusion Jazz zwar ideologisch gegensätzlich aufgeladen. Als Ausprägungen afro-diasporischer Kultur jedoch ergänzten sie sich. War das kontroverse Saxophonspiel von Ayler von dem Gefühl der Entfremdung und Entwurzelung durchdrungen, feierte Ayers positives Vibrato an Rhodes und Vibraphon das Leben im Rhythmus und Tanz.

Beide nahmen sich die Freiheit, die vorherrschenden Definitionen von Jazz zu überflügeln und jegliche Musikkulturen zu absorbieren, die ihnen auf ihrem Weg begegneten. Der Crossover durch Imitation und Transformation bedeutete nicht den Tod der alten Kultur. Als strategischer Antiessenzialismus wurde er zur Überlebenstechnik in einer sich schnell verändernden Umwelt.

Ayers variierte die Themen seiner sparsamen und zugleich verdichteten Klangräume nur leicht. So erreichte er einen hohen Grad an Wiedererkennung und konnte sein offenes Soundgerüst nutzen, um weitere Hörerkreise zu gewinnen. Den Stilmitteln seiner Zeit passte er sich dabei mit einer Leichtigkeit an wie kein anderer. Nachdem er mit dem Ubiquity-Album „He’s Comin’“ (1972) den Funk aus dem Jazz geschält hatte, vereinfachte sich sein Stil mit Blick auf das Kinopublikum erneut. Nach den Vorbildern „Shaft“ und „Superfly“ produzierte er mit „Coffy“ (1973) einen der treibendsten Blaxploitation-Soundtracks.

Auf der anderen Seite setzte sich Ayers direkt mit dem afrikanischen Erbe auseinander. Der Meister der metallenen Marimba benannte 1975 ein Album nach der panafrikanischen Flagge „Red, Black & Green“. Mit dem nigerianischen Afro-Beat-Pionier Fela Kuti knüpfte er an den diasporischen Dialog an, der schon Ali Farka Toure und John Lee Hooker oder Abdullah Ibrahim und Duke Ellington zusammen gebracht hatte. 1979 gingen Ayers und Kuti gemeinsam auf Tour und nahmen das afrozentrische Manifest „2000 Blacks Got To Be Free“ auf. Zu Besuch in Lagos sagte Ayers zu Kuti, dass er in den Busch wolle. Daraufhin entgegnete ihm sein Freund: „Roy, du musst den Busch leben.“ Umgekehrt entstand Kutis radikale Vision eines neuen Afrikas in L. A., wo er die Ideologie der Black Panthers und die Monotonie von Funk aufsog.

Die oft gestellte Frage nach dem Geheimnis seiner Musik beantwortet Ayers ganz simpel: „Alles, was wir damals getan haben, war zu grooven.“ So ist die herausragende Figur in seinem Jazzfunk-Entwurf die Wiederholung. Während die europäische Musiktradition der Idee des Fortschritts nachrennt, baut schwarze Musik auf dem Prinzip der Zirkulation auf. Durch die wiederkehrenden Rhythmen entsteht Beständigkeit und ein Gefühl der Sicherheit und Identifikation in der Fremde.

Die repetitive Ästhetik des Loops hat sich im Breakbeat manifestiert, der am Anfang von Rap stand, und eint heute alle Arten elektronisch produzierter Tanzmusik. Die ersten DJs und Produzenten aus der Sample- Kultur fanden in Ayers’ metronomisch getimeten Stücken das perfekte Futter für ihre Maschinen. Alle Elemente seiner reduzierten Instrumentalpassagen harmonierten miteinander. Behandelte Funk-Gott James Brown jedes Instrument wie ein Schlaginstrument, gab ihnen der Jazzmusiker Ayers Raum und ließ die getupften Akkorde, umarmenden Basslines, druckvollen Drums und Percussions miteinander sprechen.

Das Intro von Ayers’ Soulhymne „Daylight“ gab den Optimistismus im Rap der frühen Neunzigerjahre vor. Sein lukrativstes Sample verdankt er Mary J Bliges Gospel-Blues „My Life“ von 1994. Für vier Feel-Good-Takte aus dem Ramp-Album von 1977 gab es dreimal Platin für den „Icon Man“. Selbst zu seinen besten Zeiten war das unvorstellbar. Nicht die Industrie legte hierbei die Quellen der Musikproduktion fest. Es sind kommunale Archive in Form von Platten gewesen, mit denen sich Zeitebenen übereinander falteten und ihre Linearität aufgelöst wurde.

In der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre holten ihn seine Erben zurück ins Studio. Eine neue Zeit erkennend arbeitete er mit Guru für „Jazzmatazz“ und scattete mit Soul-Diven wie Erykah Badu. Mit den Neo-Soul-Kollektiven aus Philadelphia schließt sich ein Kreis. Neben dem Bandprinzip haben u. a. The Roots auch seinen spirituellen Katalog übernommen. Und in der Millenniumsversion von West London bis Berlin schöpft eine eklektische Tanzmusik, die sich wieder Fusion nennt, aus Ayers’ analog produziertem Breakbeatvermächtnis und seinem offenen Geist.

Ein weiterer Abkömmling ging aus Ayers’ Disco-Phase hervor. Doch auch als die Bee Gees anfingen, im Anzug zu tanzen, behielt Ayers sein T-Shirt an. Die Notwendigkeit, im R&B-Radio gespielt zu werden, hatte ihn Anfang der Siebzigerjahre zwar schon dazu gebracht, seine sanfte Gesangsstimme und große Entertainerqualitäten zu entwickeln. Am Ende der Dekade aber sprach er dem einflussreichsten New Yorker Radio-DJ Frankie Crocker mit Stücken wie „Can’t You See Me“ treffsicher aus dem Herzen. Im Warehouse in Chicago gehörte „Running Away“ zum festen Repertoire von DJ Frankie Knuckles, der dort Anfang der Achtzigerjahre nicht weniger als eine Religion namens House aus der Taufe hob. Ayers’ afrokubanische Einflüsse leben heute im Nuyorican House von den Masters At Work weiter.

„Everybody Loves The Sunshine“, Ayers’ bekanntester Hit, zählt immer noch zu den beliebtesten Rausschmeißern einer Clubnacht. So verwundert es nicht, dass es ein DJ war, der ihn von den Jazzclubs wieder ins Licht der Öffentlichkeit geholt hat. Der Rare-Groove-DJ Peter Adarkwah setzt seinem Liebhaberlabel BBE mit unveröffentlichten Ubiquity-Songs die Krone auf. Das Album „Virgin Ubiquity“ (BBE/Rough Trade) birgt Schätze, die Ayers in seiner produktivsten Schaffenszeit und in seinem ganzen Spektrum zeigen – selektiert vom Qualitätsfilter eines passionierten DJs und Fans. Zwischen 1976 und 1981 veröffentlichte der entspannte Workoholic bis zu drei Alben pro Jahr. Da er als Produzent und nicht als Künstler bei Polydor unterschrieben hatte, blieben die Nutzungsrechte für hunderte von unveröffentlichten Songs bei ihm. Statt zwanzig Jahre später in die Oldie-Verwertungskette einer Major-Industrie geraten zu sein, die gerade ratlos ihre Archive plündert, schätzt sich Ayers glücklich, dass die Aufnahmen bei Leuten rauskommen, die seine Musik lieben und am Leben erhalten haben.

Auch wenn der lächelnde Ayers-Vibe im Laufe einiger Wiederbelebungen und bei aller Vielseitigkeit derselbe geblieben ist, ist er in seiner mittlerweile vierzigjährigen Karriere ständig von den Rändern in den Mainstream und zurück gependelt. Am cutting edge von Jazz hielt er sich dabei nie auf. Dafür bewegen sich seine Grooves umso eleganter im Dekaden umspannenden Kreislauf der beats per minute, die zwar aus dem Jazz hervorgegangen sind, ihn aber abgelöst haben und dazu designt sind, einfach nur glücklich zu machen.