Und der Tanz alleine genügt

Wackelnde Hinterteile, rhythmisches Beckenschieben – in Oldenburg sind Balletttage. Da freuen sich auch Voyeure

Tanz in den Zeiten des Übergangs – so könnte das Motto der diesjährigen Oldenburger Balletttage lauten.Denn ihr Spektrum reicht von klassischer Spitze und schöner Form auf der Eröffnungsgala bis zur interaktiven Videoinstallation, die Vera Sander Art Connects heute um 20 Uhr präsentieren werden. Viele Inszenierungen aber ringen noch in sich mit verschiedenen Elementen, mögen sich von einst modernem zugunsten klarer Formen noch nicht verabschieden.

Tanz, das ist Narzissmus pur. Und Voyeurismus: Ungeniert kann man gut gebaute Männer und schöne Frauen im hautengen Dress begucken. Olga Cobos und Peter Mika nutzen dieses Sehverhalten mit ihrer Choreographie „Tower of Babel“ – zu sehen war sie am Freitag – schamlos aus: Wackelnde Hinterteile, rhythmisches Beckenschieben, zu Sambarhythmen wird Nabelschau gefeiert, mit Karnevalshütchen auf dem Kopf. Aus solchen Breaks entwickeln die fünf TänzerInnen der Cobosmika Company Unisono-Parts, die mit Synchronizität, Leichtigkeit und Lautlosigkeit bestechen. Ein ums andere Mal lösen sich Einzelne aus dem Bewegungschor. Ihre Soli und Duette geben Impulse für neue gemeinsame Figuren: Im Raum versetzt entstehen Diagonalen, die Gruppe, die Masse macht nach, was einzelne als Leader vorgeben, und zugleich ist das Ausscheren aus der Gruppe Bedingung für die neue Form.

In wundervollen Duetten loten die mehrfach preisgekrönte Spanierin Olga Cobos und ihr slowakischer Partner Peter Mika den Raum aus, den der Hunger nach Bestätigung durch den anderen Menschen ermöglicht: Noch tanzt ein Luftballon zwischen ihren Körpern, wahrt den Abstand, den Respekt. Bei einer Drehung flutscht er weg. Zarte Berührungen werden zu Impulsen, dem Gegenüber den eigenen Willen aufzuzwingen. Die lautlosen Hebefiguren, gesprungenen Pirouetten, in Pliés gehaltenen Schrittfolgen sind so präzise, sinnlich und dynamisch getanzt, dass das Thema als Nebensache, ja als Störung erscheint: Die unbändige Tanzlust der Ex-S.O.A.P-Stars und die ambitionierte Ausdrucksarbeit der Company lassen die szenischen Momente wie ein verstaubtes Relikt wirken, das noch abgestreift werden will.

Dumpfe und helle Trommeln, klingelnde Rasseln und Lautenklänge – afrikanisch-orientalische Rhythmen schwingen im Raum. Mit seinen überwiegend schwarzen Tänzern der franko-marokkanischen Association Mawgerite mit der Choreographie „O.More“ thematisiert Eduardo Montet die Geschichte von Othello als modernen Blick auf den Konflikt zwischen Orient und Okzident. Die Tänzer hocken auf dem Boden, in einer Ecke kauern die Musiker. Ihre Lieder erzählen die Geschichte, die Tänzer illustrieren sie. Wie ein Wanderer in der Wüste läuft der eine das Bühnengeviert ab. Ein anderer schiebt sich in die Mitte des Raumes, sein Körper explodiert, Arme rudern wild. Ein dritter schlägt Rad in der Luft, bleibt auf einer Hand stehen.

Wie in Initiationstänzen zucken die Leiber, doch immer wird die Bewegung gebrochen. Es gibt hier nicht die eine Figur des Othello, alle Tänzer gemeinsam verkörpern dessen Zerrissenheit, Wurzellosigkeit, die Demütigung des orientalischen Schwarzen, fern seiner Wurzeln. Das ist kraftvoll und authentisch, beklemmend und vital.

In Sprechpassagen –Französisch, Englisch – wird das Dilemma kultureller Entwurzelung noch einmal intellektuell vermittelt: die fehlende Initiation, die brachliegende Energie der Männlichkeit, die aus Ohnmacht zu Gewalt wird. Aber das ist überflüssig: Allein der Tanz und die Musik vermitteln bereits ein Wissen über das, was vielen als Triebfeder für Selbstmordattentate und andere Probleme gilt.

Marijke Gerwin