Theater einer Schmerzensreichen

Das Private ist das Kollektive: Die französische Künstlerin Sophie Calle verschiebt in ihrem Werk die Grenzen zwischen Intimität und Exhibitionismus. Ihre „privaten Mythologien“ finden sich derzeit im Centre George Pompidou in Paris öffentlich ausgestellt

VON MIRJAM SCHAUB

Eine junge Französin schreibt ihrem daheim gebliebenen Geliebten. In atemlosem Stakkatostil füllt sie die Seiten, kein Detail soll ihm entgehen. Die Antwortbriefe des Geliebten, mit nachlässiger Schrift auf schlechtes Papier geworfen und nun in der Ausstellung „Sophie Calle: M’as- tu vue?“ im Centre Pompidou hinter Glas gebracht, sie lassen auch ohne die amtlichen Stempel mit der Aufschrift „Douleur – Jour 39“ vermuten, dass Unheil in der Luft liegt. Das geplante Wiedersehen in einem Hotel in Neu-Delhi zögert sich immer wieder hinaus.

Wie in einer Fieberkurve sind die Fotografien, Reisedokumente, Briefe, Fundstücke im Raum angeordnet, sodass sich selbst die glücklichen Tage vor dem Bruch im Rückblick als trügerisches Glück erweisen. Während die Hochglanzfotografien taoistischer Tempel und japanischer Fleischtheken noch als Urlaubsbilder durchgehen könnten, verpassen die roten Count-down-Zahlen allen Dokumenten jene gleichmacherische Ordnung, die sie in diese Zeremonie des Schmerzes fügt.

Die Inkompatibilität zweier ungleichen Zeithälften und die Unmöglichkeit, die Zäsur des Ereignisses als solche zu fassen, darum kreist die Ausstellung. Vom Tod des Vaters, vom Selbstmord des Bruders, vom grußlosen Abschied der Geliebten künden im übernächsten Raum die Texte, die Sophie Calle – wie zur Relativierung des eigenen Schmerzes – ihren Freunden im Laufe der Jahre abverlangte.

Vorher – nachher

Damit fügt sich Calles Werk gut ein in die Ereigniskonzepte, die im Zuge der Beschäftigung mit dem Performativen die Theorieräume verlassen haben. Für Gilles Deleuze etwa gibt es gar keine privaten Ereignisse, getrennt von kollektiven: „Alles ist singulär und dadurch gleichzeitig kollektiv und privat, in eins besonders und allgemein.“ Das Einzigartige eines alltäglichen Gefühls, die Absolutheit eines Affekts werden von Sophie Calle konserviert, mit Gütesiegel versehen und mit einem Haltbarkeitsdatum versehen. Auf Leintuch, gerahmt, hinter Glas, hat die Künstlerin die Antworten auf die Frage „Bei welcher Gelegenheit habt ihr am meisten gelitten?“ sticken lassen. Eine Hand breit darüber ist wie eine Ikone eine Fotografie platziert, die als visuelles Substitut eine Farbe, ein Gefühl, ein Detail des Gesagten aufnimmt. Alternierend zu den Berichten der Freunde hat Calle ihre eigene Leidensgeschichte in immer neuen Varianten aufgeschrieben, versehen mit der immer gleichen Fotografie: ein rotes Telefon auf einem Hotelbett.

Doch während die Erzählungen der anderen den Moment des Schreckens und dessen Folgen in die Gegenwart hinein verlängern, verblasst Calles eigene Geschichte im Wortsinn. Der weiße Faden auf schwarzem Leintuch ist am 98. Tag nach dem Bruch so schwarz wie sein Untergrund. Schon am 31. Tag reift die Erkenntnis: „Das nächste Mal nehme ich einen, der mich liebt.“

Calles Foto-Romane wissen um die Möglichkeit, Bild und Schrift durch gezielte, allzu große Ähnlichkeit auseinander driften zu lassen. Die Künstlerin stattet viele ihrer Texte mit eigenen haptischen Qualitäten aus, während die Fotos zu einer spiegelnden Oberfläche mit ironischem Werbecharakter für das Gesagte werden. Schriftförmiges Foto und bildähnlicher Text beglaubigen sich wechselseitig und sind doch korrupte Zeugen, die am Ende weder die Wahrheit des Gesehenen noch die des Gesagten verbürgen können. Mit großer Geste wird das Theater einer Schmerzensreichen entfaltet, in einem nachgebauten Hotelzimmer samt rotem Telefon zur Klimax gebracht und dann, beim Studium der nachgereichten Schmerzensprotokolle, wieder einkassiert. „Douleur exquise“, so der Titel der Arbeit, ist auch eine Reminiszenz an das surrealistische Spiel mit dem gefalteten Spickzettel, der zusammenbringt, was nicht zusammengehört. Trotzdem fühlt man sich nach den ersten drei Räumen wie ein verheultes Taschentuch, vom Besitzer achtlos weggeworfen.

Zerfallendes Kalligramm

Viele Werke von Calle funktionieren so: als soziale Intervention, die – als spleeniges Experiment getarnt – die Grenze zwischen Öffentlichem und Privaten, Scham und Schamlosigkeit, Verletzlichkeit und Unempfindlichkeit durch gezielte mediale Eingriffe verschiebt. Lange bevor die Doku-Soap die Fernsehzimmer von innen nach außen stülpte, richtete Sophie Calle ihre Aufmerksamkeit auf die Schamgrenze, die einst das alltägliche Leben den Diskursen von Wissenschaft und Kunst entzog. Die „private Mythologie“ (Harald Szeemann), die Sophie Calle wie kaum eine andere Künstlerin pflegt, indem sie ihr Leben nach strengen Spielregeln organisiert – zum Beispiel das freiwillige Unterwerfen unter die Pläne des Geliebten, aber nur an geraden Tagen –, könnte man als Koketterie eines künstlich mit Abenteuern bereicherten Lebens abtun, wäre all diesen Aktionen nicht ein intriganter, voluntaristischer Zug eigen, der nach Art eines provozierten Unfalls eine Antwort des Anderen erzwingt.

Calles Kunst bringt Menschen zum Sprechen, erzwingt eine Kommunikation, wo Sprachlosigkeit regiert – wer fragt schon Blinde nach dem Schönsten, was sie je gesehen haben? –, wo Erinnerung aussetzt und (Sprach-) Bilder erst nach und nach gefunden werden müssen. Und Sophie Calle bietet sich vergleichsweise bescheiden an, als Bilder- und Geschichten(er)finderin, als Heilende, die anderen hilft, indem sie sich selbst Gutes tut. Doch auch das ist nur eine der möglichen Deutungen, die zurzeit als besonders authentisch gelten.

Schamloses Privattheater, einer Hysterikerin nicht unähnlich, hat man der Künstlerin vorgeworfen. Gerade die dialogischen Objektivierungen, um die ihr Werk beständig bemüht ist, der institutionalisierte Perspektivwechsel, der bis in die konkurrierende Doppeltheit von Schrift und Bild hineinreicht, gehören in dieses hausgemachte Desinformationstheater. Das scheinbar Gelebte, scheinbar allzu Private wird von einer Flut von Gesammeltem, Konstruiertem, Rekonstruiertem, Erfundenem orchestriert; doch es ist ein „abgekartetes Spiel“, „eine Parodie der Parodie“ (Luc Sante) auf das kulturellen Schindluder, das wir mit der Ware Information treiben, bis sie sich in Wissen, Gerücht, Lüge oder junk verwandelt.

Das Ende des Privaten

Und dennoch meint man durch das Dickicht des Fakes hindurch eine diagnostische Wahrheit zu erkennen. Warum die Gier nach einem authentischen Leben um jeden Preis? Sind wir selbst so kontrolliert? Und das heißt auch unfähig, uns in einen unbewussten Raum zu retten, in dem uns keine Objektivierung folgen, keine Distanzierung treffen kann. Wo wir den Komfort eines einsamen Seelenlebens ohne Gegenüber genießen können?

Die Zumutung der Veröffentlichung des Privaten, nicht für den fremden Blick Bestimmten, deutet sich schon 1980 in „Suite Vénitienne“ an: Als Zimmermädchen getarnt, fotografierte Calle einen Monat lang in Venedig den Schrank-, Koffer- und Mülleimerinhalt der ihr zugänglichen Hotelzimmer. Privatheit, das ist das prekäre Recht, den eigenen Dingen – Büchern, Kleidern, Parfümflaschen – eine sichtbare Ordnung zu geben, die nur so lange unbewusst und für uns unsichtbar bleiben kann, wie kein fremder Blick von außen auf sie fällt. Privatheit, das ist das Paradox, mitten im Sichtbaren unsichtbar werden zu dürfen. Unsere Sehnsucht nach Authentizität kündet vom Verlust dieses imaginären Raums inmitten der sichtbaren Dingwelt. Am Ende ist ausgerechnet der verrückten Madame Calle mit ihren Interventionen ein Leben geglückt, das die Gabe der Naivität wiedergewonnen hat.

Ausstellung bis 15. März, im Centre George Pompidou, Paris. Katalog 49,90 €