Zu kalt zum Erinnern

Anlässlich des Holocaust-Gedenktages fand in der Wittener Erlöser-Kirche eine Veranstaltung in Erinnerung der Opfer des Nationalsozialismus statt

“In Annen hatte das System des Nationalsozialismus ein furchtbares Zuhause.“ Claus Humbert

Von Leonie Lydorf

Es ist kalt. Es schneit. Menschen mit hochgeklapptem Mantelkragen eilen zielstrebig in die Wittener Erlöser-Kirche. In dem kleinen evangelischen Gotteshaus haben sich rund 50 Menschen versammelt, um den Opfern des Nationalsozialismus zu gedenken. Hauptsächlich Schüler, aber auch Senioren, alle tragen Jacken und Schals, die Hände in den Taschen. Als der Pfarrer Claus Humbert in einen dicken Mantel gehüllt vor die Menge tritt, verstummt das aufgeregte Getuschel. Er bedankt sich, dass so viele Menschen erschienen sind und erklärt, warum die Wittener Kirche ein besonderes Anliegen an den Gedenktag hat: „Die Ortsnähe zum Konzentrationslager Buchenwald. In Annen hatte das System des Nationalsozialismus ein furchtbares Zuhause.“

In Witten Annen befand sich ein Außenlager des Konzentrationslagers Buchenwald. „Von Buchenwald aus wurden Zwangsarbeiter in die Wittener Rüstungsindustrie geschickt“, sagt Pfarrer Humbert. Die rund 600 Insassen des Lagers an der Ruhr kamen überwiegend aus Frankreich und der Sowjetunion und arbeiteten für das Gussstahlwerk in Annen.

Auch der Bürgermeister Klaus Lohmann hat eine kleine Rede vorbereitet. Er bedauert, dass es ein „zunehmendes Unbehagen, einen Unwillen gegen die Erinnerung an den Holocaust“ gibt. Doch „viele grausame Verbrechen sind noch ungesühnt“. Da es ihm ein besonderes Anliegen ist, Jugendliche für das Thema zu gewinnen, freut es ihn besonders, dass so viele Schüler anwesend sind. „Das macht Hoffnung.“

Drei Jugendliche treten auf. Sie lesen aus dem Tagebuch des französischen Häftlings Robert Maréchal, der 1944 bis 1945 im Konzentrationslager Zwangsarbeit in einer Rüstungsfabrik verrichten musste. Die beiden Schüler Robbin Scharf und Daniel Mutlu stehen jeweils links und rechts vom Publikum auf einer Loge, die Schülerin Elisabeth Brenker sitzt vor der Menge. Sie tragen die stichpunktartigen Notizen des Häftlings vor. Passend zum Stil der Aufzeichnungen lesen sie ruhig und nüchtern. „Heute: Alarm. Es friert.“ Berichtet wird über Leid und Elend, über Hunger, Kälte und Arbeit bis an die körperlichen Grenzen. Stupide Tagesabläufe, schlafen, arbeiten, warten auf Essen, nur unterbrochen durch Alarm. Aber auch über die nie ganz gestorbene Hoffnung des Häftlings auf seine Befreiung, die sich 1945 verwirklicht: Nach einer Tagelangen Flucht vor den Alliierten, kann Robert Maréchal aus dem Trupp flüchten, kurz darauf rücken die Alliierten ein.

Nach einem zaghaften Applaus, fordert der Pfarrer die Gemeinde auf, einen Kranz an der nahegelegenen Gedenkstätte niederzulegen. Die kleine Gruppe macht sich auf den Weg. Das Denkmal, auf dem ehemaligen KZ-Gelände ist „etwas unglücklich gelegen“, wie Martina Kliner-Fruck vom Stadtarchiv Witten zugibt. Direkt an einem Parkplatz, auf dem mit laufendem Motor ein Auto steht. Etwas abseits hat ein Polizist unauffällig Posten bezogen. Der Bürgermeister Klaus Lohmann, der Pfarrer Claus Humbert und Karlheinz Dressel vom Freundeskreis der Israelfahrer legen den mit Tannenzapfen und weißen Blumen geschmückten Kranz nieder. Auf dem Spruchband steht „Wir erinnern und mahnen“. Doch gerade den Schülern scheint es zu kalt zum Erinnern zu sein. Schnellstmöglich machen sie sich auf den Rückweg. Nur eine kleine Gruppe älterer Leute bleibt an der Denkstätte zurück.