Was fällt, wird gestoßen

Nachdem vor zwölf Jahren der Osten von der politischen Bühne verschwunden ist, gibt es nun keinen Westen mehr. Auch dessen Institutionen sind bedeutungslos geworden

Auch eingewonnener Krieg im Irakwird einverlorener Krieg sein

Den Westen wird es von nun an nicht mehr geben. Es gibt nur noch die USA und die anderen. Amerika selbst hat es so gewollt. Nachdem der Osten seit mehr als einem Jahrzehnt nicht mehr existiert, ist der Verfallstermin für den Westen gekommen.

Dies ist die selbstverständliche Konsequenz eines Imperiums, das auf seinem Zenit angelangt ist und die Suprematie beansprucht, beanspruchen muss. Darunter hat es noch kein Imperium getan. Keines konnte sich bescheiden, um seine Macht als eine relative erhalten zu können. Das imperiale Amerika handelt in dieser Tradition, wenn es seine Bundesgenossen, die ihm in der Existenzfrage von Krieg und Frieden nicht folgen wollen, in den Feindzustand versetzt: Wir oder die – was schert uns das Bündnis.

Dass es den Westen künftig nicht mehr gibt, drückt sich am sinnfälligsten in dieser finalen Entscheidung aus: Russland, die ehemalige Imperialmacht des Ostens, stellt sich zusammen mit ehemaligen Verbündeten und Vasallen Amerikas gegen eigene ehemalige Vasallen, die wiederum mit dem soeben noch feindlichen Imperium paktieren. Das Imperium besteht, man wird es in Kürze sehen, allein aus Amerika und Hilfsnationen, die es kaum hinreichend honorieren kann. Gleichwohl bleibt Amerika die erste Demokratie der Welt.

Das „Zeitalter der Extreme“, wie es Eric Hobsbawm genannt hat, ist also noch nicht zu Ende. Das „kurze 20. Jahrhundert“, dem er die Lebensspanne 1914 bis 1991 zugeschrieben hat, bleibt weiterhin unabgeschlossen. Erst muss das schauervolle Nachspiel, der Niedergang des liberalen Imperiums, durchgestanden sein. Und erst dann kann eine neue, andere politische Weltordnung auf den Plan treten.

Die These vom kurzen 20. Jahrhundert, vorgetragen 1994, wurde damals bereitwillig aufgenommen. Sie enthielt die Aussicht oder doch die Hoffnung, die Imperien und die imperialen Machtansprüche seien historisch erschöpft – und damit auch die Totalitarismen, die so viele der Imperien getragen hatten. Das letzte, das liberale Imperium, darauf wollte man gerne seinen Einsatz wagen, werde nicht in die totalitäre Falle gehen. Dass ein nationalistischer Fundamentalismus noch einmal in die Nähe totalitären Verhaltens führen könnte, hielt man damals, in den Clinton-Jahren, nicht für wahrscheinlich. Man wusste zwar, zu welchen Brutalitäten Amerika im Dienste seiner Interessen stets fähig gewesen war. Aber man schrieb ihm noch genug Fairness und gesunden Menschenverstand zu, um sich selbst nach einer Weile zu korrigieren.

Also betrachtete man das liberale Imperium gerne als Anfang eines neuen Zeitalters, in dem es nicht perspektivlos und selbstgeblendet untergehen müsste – wenn schon sein Untergang unvermeidlich schien, wie vor ihm der Untergang aller Imperien.

Und nun dieser atemraubende, unglaubliche Vorgang: Ohne politischen Plan und ohne besondere Absicht gelingt es der Führung der amerikanischen Nation binnen weniger Monate, drei Hauptpfeiler des westlichen Systems einzureißen oder so schwer zu beschädigen, dass sie kaum wiederherzustellen sind. Zugleich verschärft sie die eigene Wirtschaftskrise ebenso wie die der Welt.

Überdies kündigt der Präsident, der mit einem schnellen Sieg im Irak rechnen darf, eine Fortsetzung seines liberalen Kreuzzugs an, um den ganzen Nahen Osten demokratisch zu befrieden. Dafür muss er wiederum die bewährten Unterstützer Großbritannien und Spanien um Hilfe bitten, wenigstens um moralische. Mit der Erfüllung seiner imperialen Mission wird Amerika wohl ganz alleine bleiben.

Und: Auch ein gewonnener Krieg im Irak wird ein verlorener Krieg sein. Dieser dröhnende konvulsivische Niedergang kann nicht allein von einem manichäistisch besessenen Staatsführer und seinem Clan verschuldet und ausgelöst sein. Selbst wenn mit ihren Allmachtsfantasien die Energie gewachsen ist, aufs Ganze zu gehen, um die demokratische Freiheit im „Chaos der Welt“ (Condoleezza Rice) herzustellen: Dies reicht nicht aus, um die Kraft zu all diesen Verheerungen zu erklären.

Es ist die Kumulation der Einstürze, die ans Licht bringt, wie morsch die einzelnen Bestandteile des westlichen Gebäudes sind. Morsch die Nato, deren Daseinszweck seit mehr als einem Jahrzehnt erledigt ist. Morsch die Europäische Union, deren schwachmütiger Versuch, sich eine politische Verfassung zu geben, nun desavouiert und ausgehebelt ist. Es sind, neben Blair, Berlusconi und Aznar, ausgerechnet jene Staaten, die ihre Hoffnung auf Nato und EU gesetzt hatten und die nun zum Auslöser ihres Ruins wurden: die aus dem sowjetischen Völkerkerker entkommenen Zentral- und Osteuropäer. Als sie sich zu der Ergebenheitsadresse an das Imperium entschlossen, waren sie in Unkenntnis der Weltsituation. Sie wollten, in Dankbarkeit gegenüber Amerika, Souveränität und Unabhängigkeit beweisen. So hintergingen sie die westeuropäischen Marktstaaten und bleiben doch zu allererst auf die EU-Gemeinschaft angewiesen. Von Amerika können sie wenig erwarten. Geradezu tragisch ist dies im Fall Polens, das historisch wieder einmal zu spät kommt. Deutschland und Russland brauchen sich nur freundlich zuzublinzeln, und sofort werden in Polen wieder die alten Angstinstinkte wach werden.

Erst muss das schauervolle Nachspiel, der Niedergang des liberalen Imperiums, durchgestanden sein

Morsch sind schließlich die Vereinten Nation, von den USA seit langem dominiert und zugleich verachtet. Die vom Sicherheitsrat eingehüllten Vetomächte haben längst ihre Machtsubstanz eingebüßt, da sie zerstritten sind. Das überrascht kaum, denn die Konstruktion des Rates war eine Ausgeburt der alten Siegermächte, die sich bereits im kalten Krieg miteinander befanden. Seine Spaltung zeigt, dass es von Anfang an eine gefährdete, ja gefährliche Konstruktion war, einigen wenigen Staatsführungen der (noch) imperialen Mächte die Entscheidung über den Ernstfall anzuvertrauen. In der heutigen Weltsituation ist der Sicherheitsrat, den Amerika selber demoliert, eine untaugliche Einrichtung, die mehr Vernünftiges verhindert als bewahrt. Und die Vereinten Nationen insgesamt werden als letzte Instanz kaum noch zu gebrauchen sein.

Diesen abwärts gleitenden Welt- und Bündnisinstitutionen ist nicht mehr aufzuhelfen. Bush hat nur gestoßen, was schon halb verloren war. Die Nato in jedem Fall. Den Vereinten Nationen wäre ihre zugedachte Rolle nicht mehr zu verschaffen, selbst wenn Amerika aus eigenem Interesse tätige Reue zeigte und sie aktiv stützen würde. Und die Europäische Union muss mit der Errichtung einer kraftvollen politischen Verfassung noch einmal ganz von vorne anfangen. Im Moment schwer zu glauben, dass sie die nötige Energie dazu aufbringen kann.

Mehr als ein halbes Jahrhundert lang hat sich der Westen in seinem Machtwollen bestätigt und berauscht und hat sich dabei auf die Ewigkeit des Staates verlassen. Nun wird er auf einmal dazu verurteilt, als ohnmächtiger Zuschauer der Geschehensmechanik seinen Niedergang zu erleben. CLAUS KOCH