Kreuzung der Geschichte

Die Geschichte des neu eröffneten jüdischen Friedhofs in Mitte ist kurios: Wehrmachtsoldaten liegen gemeinsam mit Berliner Juden dort begraben

VON HANNES VOLLMUTH

Ein Ort deutscher Geschichte. Eine Kreuzung historischer Linien. Der Mitte September wiedereröffnete jüdische Friedhof in der Großen Hamburger Straße ist eine Mahnung an das Hier und Jetzt.

Efeu rankt sich heute auf dem Friedhof, der 1672 als erster jüdischer Begräbnisort in Berlin angelegt worden ist. Von Grabsteinen, die einst ein Kurfürstentum repräsentierten, das sich Religionsfreiheit auf seine Fahnen geschrieben hatte, ist heute nichts mehr zu sehen. 50 aus Wien vertriebenen jüdischen Familien erlaubte der Kurfürst Friedrich Wilhelm 1671, in Berlin zu leben. Es waren nach über hundert Jahren die ersten Juden, die sich in der Stadt ansiedelten. Der jüdische Friedhof entstand in dieser Zeit vor den Toren Berlins. Heute rahmen hohe Häuserwände den Ort ein, auf dem Wehrmachtsoldaten im Zweiten Weltkrieg Fußball spielten, SS-Mitglieder begraben liegen und auch der bekannteste jüdische Aufklärer, Moses Mendelssohn, seine letzte Ruhestätte gefunden hat.

Mächtige Bäume und Mendelssohns Grabstein ragen als Einzige aus der Efeuwüste. Dem Vorkämpfer der Aufklärer und Vorbild für Lessings Nathan, der liberale Jude im Ideendrama des Literaten, blieb als Einzigem ein Zeichen des Gedenkens. Steine türmen sich auf seinem Grab. So viele, dass man fürchten muss, sie kullern jeden Moment herunter. Und dennoch: Die Steinansammlung wächst. Jeder Besucher will hier ein Zeichen setzen.

„Die besten, aber auch die schlimmsten Zeiten der Berliner Jüdischen Gemeinde“ manifestiere der neu eröffnete Friedhof, sagte Benno Bleiberg, Kultusdezernent der Jüdischen Gemeinde, am Eröffnungstag. Die besten, weil die bloße Existenz Ausdruck eines liberalen Kurfürstentums war und ein zukünftiges Leben ohne Verfolgung und Diskriminierung versprach. Die schlimmsten, weil der jüdische Friedhof mitten in Berlin eben kein Ort der Stille blieb.

1943 schändeten die Nationalsozialisten den seit 1827 geschlossenen Friedhof. 2.000 Kriegstote wurden in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs in Massengräbern auf dem Gelände beigesetzt, wo längst keine Grabsteine mehr an den Ort des letzten Friedens von Berliner Juden erinnerten. Einzig zwanzig Grabsteine blieben heil, wurden auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee gelagert und sollen jetzt wieder auf den Ursprungsort gestellt werden.

Auch der Holocaust prägte diesen Ort. Gleich neben dem Friedhof wurden im ehemaligen jüdischen Altersheim Juden zusammengetrieben und anschließend deportiert. Eine 1985 aufgestellte Bronzeskulptur, die ausgemergelte Menschen zeigt, erinnert heute daran. Die Massengräber der Wehrmachtsoldaten von denen der Juden zu trennen, wollten die Verantwortlichen nicht. Denn eine genaue Abgrenzung war ohne größere Eingriffe nicht mehr möglich. So verlieren sich die Linien, und die Gräber gehen ineinander über. Annähernd 10.000 Juden und 2.400 Wehrmachtsoldaten liegen begraben auf ein und demselben Friedhof, der jetzt wieder der Öffentlichkeit zugänglich ist. Ein denkwürdiger Ort.