80 jahre warten auf den zug von RALF SOTSCHECK
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Der Londoner ist geduldig. Das muss er auch sein, wenn er sich fortbewegen will. Auf den Flughäfen geht es zu wie in Ameisenhaufen, die U-Bahn ist hoffnungslos veraltet und bleibt häufig auf freier Strecke stehen, die Autobahnen rund um die englische Hauptstadt sind verstopft, und wer in die Innenstadt fahren will, muss fünf Pfund berappen. So weit die guten Nachrichten. Die schlechte: Seit die Tories die Eisenbahnen Mitte der Neunzigerjahre verschachert haben, ist es den privaten Bahnunternehmen mühelos gelungen, ihren Service so weit zu reduzieren, dass es einem Drittweltland peinlich wäre.

Doch nun wird alles besser. Das halbstaatliche Unternehmen Network Rail, das für das Schienennetz zuständig ist, seit man es den Versagern der Privatfirma Railtrack vor gut einem Jahr weggenommen hat, wartete vorige Woche mit einer guten Nachricht auf: Im letzten Quartal des vergangenen Jahres waren die Züge nur noch knapp sechseinhalb Jahre verspätet, jubelte der stellvertretende Geschäftsführer Iain Coucher. Den Mut, eine Verspätung von 55.000 Stunden innerhalb von drei Monaten als Erfolg zu verkaufen, muss man erst mal aufbringen.

„Wir sind auf dem richtigen Weg“, freute sich Coucher. „Die Beachtung von Details, die großen Investitionen in die Wartung der Schienen, die Bemühungen unserer Angestellten und die enge Zusammenarbeit mit den Bahnunternehmen haben zu dieser deutlichen und unwiderlegbaren Verbesserung geführt.“ Es ist lobenswert, dass die Eigentümer des Schienennetzes mit den Eisenbahnunternehmen, deren Züge auf eben diesem Schienenetz verkehren, eng kooperieren. Mit ihren eigenen Subunternehmen scheinen sie jedoch nicht zusammenzuarbeiten. Am Wochenende kam heraus, dass ein Elektriker der Firma Amey einen Teil der Strecke London–Glasgow falsch verkabelt hat, sodass die Sicherheitsbeamten keine Ahnung hatten, welche Züge sich auf der Strecke befanden. Der Elektriker hatte gar keinen Auftrag von Network Rail.

Ohnehin sollten die Passagiere über Couchers Triumphgeheul – „Was sind schon 327 Wochen unter Freunden?“ – nicht allzu sehr aus dem Häuschen geraten, sondern einen genaueren Blick auf die Statistik werfen. Die Verbesserungen beziehen sich nämlich nur auf die Verspätungen, die von Network Rail verschuldet sind – wegen Herbstlaub, Schnee oder Lebensmüden auf den Gleisen, wegen Signalfehlern oder Reparaturarbeiten an Schienen, die sich aufgrund der berüchtigten englischen Sommerhitze verbogen haben.

Für Züge, die wegen mangelnder Investitionen der Privatunternehmen liegen bleiben oder wegen Personaleinsparungen gar nicht erst losfahren können, sind die Bahnbetreiber verantwortlich. Vorletztes Jahr gingen 40 Prozent der Verspätungen auf das Konto der Bahnunternehmen, im letzten Quartal 2003 waren es 54 Prozent. Mit anderen Worten: Die sechseinhalb Jahre Verspätung, die von Network Rail verschuldet sind, müssen mehr als verdoppelt werden, wenn man wissen will, wie lange Engländer tatsächlich auf den Zug warten. Auf zwölf Monate umgerechnet wären das mehr als 50 Jahre. Die gefühlte Zeit beträgt 80 Jahre: Um 1920 brauchten die Züge auch nicht länger als heute.