„Er hat ‘ne Chance verdient“

Sie haben ihre Strafe verbüßt, eine gute Sozialprognose und sind in Berlin zu Hause. Dennoch werden jugendliche Migranten abgeschoben. Das Ausländerrecht erlaubt es – wie im Fall Köksel A.

von HEIKE KLEFFNER

Der Anrufer klang ratlos. „Mein Freund soll abgeschoben werden, was kann ich tun?“ Dass die Antwort bei Anwälten und Migrantenorganisationen „Nichts, da kann niemand mehr helfen“ lauten würde, damit hatte Heron V. nicht gerechnet, als ihm sein Freund Köksel A. bei einem Besuch kurz vor Weihnachten die schlechte Nachricht überbrachte. „Am 1. Januar soll ich freiwillig ausreisen, ansonsten werde ich in die Türkei abgeschoben.“

Heron schüttelt den Kopf, wenn er daran denkt, dass es „lediglich ein Stück Papier ist, das darüber entscheidet, wer hier bleiben darf“. Gemeint ist die deutsche Staatsbürgerschaft, die der 25-jährige Deutsch-Brasilianer Heron durch seinen deutschen Adoptivvater erhalten hat, während sein türkischer Freund Köksel dachte, seine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung sei ausreichend. Vermutlich wäre alles gut gegangen, und die beiden Freunde würden immer noch mit Nils, dem „echten Berliner“, wie Heron lachend hinzufügt, deutsch-englisch-türkisch-brasilianische Rap-Songs in einem Kreuzberger Zimmer-Studio produzieren, wenn „da nicht diese Geschichte gewesen wäre“.

Vier Jahre ist es jetzt her, dass Köksel nach einem Streit auf der Straße zwei albanische Männer mit Streifschüssen aus einer 7-Millimeter-Pistole verletzte. Bis dahin ist Köksel ein unbeschriebenes Blatt. Seine Eltern kamen in den 70er-Jahren aus der Türkei nach Berlin. Köksel wächst im Kiez rings um die Kreuzberger Naunynstraße auf, die Türkei kennt er nur von den Sommerferien. Mit Heron und Nils besucht Köksel die Hektor-Petersen-Oberschule in Kreuzberg, verlässt die Schule ohne Abschluss.

„Alles andere war spannender“, sagt Heron. Fahrräder klauen, Fußball spielen, Musik und „Unsinn“ machen. „Außerdem waren die Art des Lernens stupide und die Zukunftsperspektiven auch mit Schulabschluss nicht sehr rosig.“ Köksel bricht eine Dachdeckerlehre ab und verdient sein Geld als Leiharbeiter auf Baustellen. Der Freund habe „sich alles im Leben erarbeitet“, betont Heron. Doch die Richter in Moabit bleiben hart. Dreieinhalb Jahr Haft wegen gefährlicher Körperverletzung und Waffenbesitz lautet das Urteil für den damals 21-Jährigen. Eine Strafe, die Köksel mustergültig absitzt. Als Freigänger macht er auf der Abendschule den Hauptschulabschluss nach; die Sozialprognose fällt positiv aus.

Bei seiner Entlassung im Sommer 2002 verspricht Köksel seinen Freunden, „in Zukunft die Finger von Waffen zu lassen“. Der Schock kommt im Frühherbst: Die Ausländerbehörde teilt Köksel schriftlich mit, dass er Deutschland am 1. Januar 2003 verlassen muss. „Nach dem Ausländergesetz hat die Behörde Recht“, sagt Rechtsanwältin Andrea Würdinger vom Republikanischen Anwälte- und Anwältinnenverein (RAV). Köksel liegt genau sechs Monate über dem Mindeststrafmaß von drei Jahren, das in der Regel eine Ausweisung nach sich zieht.

Köksels Freunde sind schockiert. „Niemand hat uns erzählt, dass man ausgewiesen werden kann, nachdem man schon im Knast gesessen hat“, sagt Heron. Würdinger spricht von einer „Doppelbestrafung“ für straffällige Migranten, die der RAV schon lange kritisiere. Köksel verliert seine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung. Legal arbeiten kann er auch nicht mehr, weil seine Arbeitserlaubnis an den Aufenthalt gekoppelt ist. Im Dezember entscheidet er sich zur „freiwilligen Ausreise“ in die Türkei. Damit hofft er, erhöhen sich seine Chancen, dass die Sperre für die Wiedereinreise nach Deutschland irgendwann aufgehoben wird. Seitdem er nach Istanbul geflogen ist, telefoniert Heron regelmäßig mit dem Freund. Es gehe ihm nicht gut. „Sein Türkisch ist extrem schlecht, Arbeit gibt es dort für ihn nicht, seine Familie ist in Berlin, und demnächst muss er zur Armee.“ Heron findet, dass Köksel nach der Haft „’ne neue Chance in Berlin“ verdient hat.

Als „nicht weiter verwunderlich“ kommentiert Volker Ratzmann von den Grünen die Wissenslücke vieler jugendlicher Migranten, schließlich habe die Innenverwaltung immer noch keine intensive Aufklärungskampagne zum Staatsbürgerschaftsrecht für die Zielgruppe im Alter zwischen 18 und 21 Jahren gestartet. Heron sagt, Köksel hätte nach seiner Entlassung doch normal in seiner Geburtsstadt leben können. „Aber die Gesetze habe ihn zu einem rechtlosen Ausländer degradiert.“