Siemens soll abschalten

Auf der Hauptversammlung des Münchener Konzerns werden heute tausende gegen die unsägliche Atompolitik und den massiven Stellenabbau demonstrieren

NÜRNBERG taz ■ Heinrich von Pierer ist begeistert. 2003 sei für den Konzern ein „tolles Geschäftsjahr“ gewesen. Der Vorstandsvorsitzende von Siemens kann deshalb zur Freude der Aktionäre auf der Hauptversammlung (HV) heute in München stolz von einer Gewinnsteigerung von 25 Prozent alleine im letzten Quartal des abgelaufenen Geschäftsjahres berichten.

Kaum Freude vorhanden sein dürfte dagegen bei den Beschäftigten. Schließlich will der Konzern schon bald mehr als 10.000 Stellen streichen; vor allem in der Netzwerk- und der Mobilfunksparte.

Vor den Toren der Olympiahalle wollen deshalb ein paar tausend Arbeiter und Angestellte von Siemens gegen den vom Boss schon Anfang der Woche verkündeten Stellenabbau protestieren. Kritische Aktionäre, Umweltschützer und auch einige Belegschaftsaktionäre regt allerdings noch ein anderes Thema auf: die Atompolitik von Siemens. Sie reiben sich daran, dass sich Siemens am Bau eines Atomkraftwerks in Finnland beteiligen will. Zum ersten Mal seit 13 Jahren werde damit in der Europäischen Union wieder ein AKW neu gebaut. Die Atomkraft, aus der man in Deutschland aussteigen wolle, werde mit diesem AKW einen „neuen Schub“ erhalten, befürchtet etwa der kritische Siemens-Aktionär Eduard Bernhardt, Vorstandsmitglied des Bundesverbandes Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU).

Seiner Ansicht nach bestärken das entsprechende Äußerungen von Siemens-Zentralvorstand Uriel Sharef. Tatsächlich erwartet Sharef, „dass das finnische Beispiel auch in anderen Ländern Schule machen wird“.

Der geplante AKW-Neubau in Finnland hatte schon in den letzten Monaten Auseinandersetzungen auch innerhalb der atomausstiegswilligen rot-grünen Bundesregierung provoziert. Vor allem die Grünen monierten, dass die Bundesregierung versprochen hatte, eine von Siemens für das Projekt beantragte Hermesbürgschaft für das Projekt wohlwollend prüfen zu lassen.

Als diese Auseinandersetzung im Dezember 2003 zu eskalieren drohte, zog Siemens den Antrag zurück. Die Kommission der Europäischen Union (EU) wollte ohnehin prüfen lassen, ob eine solche Bürgschaft überhaupt mit europäischem Recht zu vereinbaren gewesen wäre.

Den Kritikern der Konzernpolitik nahm diese Entscheidung allerdings nicht den Wind aus den Segeln. Die Belegschaftsaktionäre und die kritischen Aktionäre wollen den Vorstand denn auch heute auf der Hauptversammlung nicht entlasten.

Sie wenden sich auch gegen den von Siemens angestrebten Verkauf der bereits zerlegten Plutoniumfabrik (MOX) in Hanau nach China, der in den letzten Wochen die rot-grüne politische Bühne beschäftigte. Den Demonstranten geht es morgen aber ganz generell gegen die Atomwirtschaftssparte des Konzerns. Seit 2000 arbeitet Siemens auf dem Feld der Nuklearökonomie mit der französischen Firma Framatom zusammen – und wurde damit zum Weltmarktführer.

In Paris demonstrierten am letzten Wochenende 10.000 Menschen gegen die Renaissance der Atompolitik unter der Ägide der beiden Konzerne. Sie forderten Energiesparprogramme und den Ausbau regenerativen Energien.

Die Realität in Europa sieht anders aus. So hat die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung gerade Gelder für ukrainische AKWs zur Verfügung gestellt. Die Bundesregierung enthielt sich nur, statt dagegen zu stimmen. Und im März 2000 genehmigte der interministerielle Ausschuss Hermesbürgschaften für den Neubau des AKW Lianyungang in China und die Nachrüstung der AKW Atucha I in Argentinien und Ignalina in Litauen. Der jeweilige Erbauer? Natürlich Siemens.

CORELL WEX, KPK