Kultur = Sprache + Land + Fluss

Schule mit Zuwandererkindern ist mehr, als Deutsch zu büffeln. Wenn über ein Drittel der Schüler einen Migrationshintergrund haben, mischen sich die Kulturen. Und erfordern interkulturellen Unterricht – wie ihn die Berliner Europaschulen praktizieren

AUS BERLIN JEANNETTE GODDAR

Tolga ist elf und wohnt in Berlin-Kreuzberg. Tolga sitzt in einer Kreuzberger Aula auf dem Fußboden. Fragt man ihn, woher er kommt, setzt er zu einer komplexen Antwort an: Sein Vater sei Deutscher, aber eigentlich Türke; jedenfalls sei er in der Türkei zur Schule gegangen. Seine Mutter sei einfach nur Deutsche, in Berlin geboren, habe aber eine Weile in der Türkei gelebt.

So genau hat man es eigentlich gar nicht wissen wollen. Aber vielleicht tut der Elfjährige ganz gut daran, einmal unfreiwillig klarzustellen, wie kompliziert sich die Antwort auf die leidige Frage nach der Herkunft häufig gestaltet. Nach groben Schätzungen stammen inzwischen 30 bis 40 Prozent der Kinder in Großstädten aus Familien mit etwas, was so schön „Migrationshintergrund“ heißt.

Das Besondere an dem deutsch-türkischen Kreuzberger ist, dass er auf einer Schule ist, die diesen Hintergrund nicht als lästigen Geburtsfehler betrachtet, sondern zum Schulprogramm gemacht hat. In der letzten Stunde hat Tolga einen Adventskalender gebastelt und sich dabei erklären lassen, was es mit dem Weihnachtsfest auf sich hat. Beim letzten Zuckerfest hat er deutsch-deutsche Mitschüler zu sich eingeladen. In der nächsten Stunde wird er Geschichten von Nazim Hikmet und Erich Kästner lesen, in der übernächsten die längsten Flüsse der Türkei mit denen Deutschlands vergleichen. Vor der großen Pause wurde im Unterricht türkisch gesprochen, in der nächsten Stunde wird es deutsch sein.

Tolga ist einer von 340 Schülern, die die deutsch-türkische Europaschule in Berlin-Kreuzberg besuchen. In den Europaschulen, von denen es in Berlin inzwischen 16 gibt, sind sowohl Zweisprachigkeit als auch Interkulturalität Konzept. Die Schulen richten sich an Deutsche und an Zuwanderer, idealerweise soll je die Hälfte einen deutschen und einen nichtdeutschen Hintergrund haben. Wer sich anmeldet, wird auf seine Sprachkenntnisse durchleuchtet. Wer besser Deutsch kann, bekommt Deutsch als so genannte „Schwerpunktsprache“ und die andere als „Partnersprache“; bei den anderen ist es umgekehrt. Im Anschluss lernt jedes Kind zunächst in seiner Schwerpunktsprache lesen und schreiben. In allen anderen Fächern als Deutsch und Türkisch werden die Kinder gemeinsam unterrichtet. Mathe wird auf Deutsch, Sachunterricht auf Türkisch, Kunst und Musik in beiden Sprachen gelehrt.

Die bilinguale Ausbildung, die auch den Grundstein für einen in zwei Ländern anerkannten Schulabschluss legen soll, ist aber nur ein Teil des Konzepts. Im Idealfall sollen auch die deutschen Europaschüler im Lauf ihrer sechsjährigen Grundschulzeit mehr von ihren Mitschülern begreifen – zum Beispiel mehr als die Frage, warum Türken keinen Pastor haben und was Oma und Opa aus Anatolien hierher verschlagen hat. „Die Sprache ist der Schlüssel zur anderen Kultur“, sagt die Schulleiterin Christel Kottmann-Mentz, „was wir vor allem wollen, ist, Kinder zu interkulturell kompetenten Menschen zu machen.“

Folglich zieht sich Interkulturalität durch alle Fächer. Dass deutsche und türkische Dichter gelesen werden, versteht sich vielleicht noch von selbst. Aber auch die Bronzezeit wird in Deutschland und der Türkei behandelt, dazu wird auch eine Klassenfahrt zu Ausgrabungsstätten ins türkische Konya angeboten. Im Geschichtsunterricht wird das „Dritte Reich“ auch aus türkischer, Atatürk auch aus deutscher Sicht betrachtet. Seit man einmal damit angefangen hat, interkulturellen Unterricht zu machen, weiß man in Kreuzberg, dass sogar der Matheunterricht ein anderer wird, wenn er auf die verschiedenen Kulturen im Klassenraum eingeht: In anderen Ländern ist es nämlich überhaupt nicht selbstverständlich, in Zehner- und Hundertersprüngen zu rechnen. Außerdem bauen Kinder aus anderen Kulturen ganz andere Eselsbrücken, um sich mathematische Gleichungen zu merken.

Nach neun Jahren Europaschule beobachtet Christel Kottmann-Mentz, dass der Unterricht sich nicht nur für Kinder der zweiten und dritten Generation, sondern auch für ihre deutschen Mitschüler bewährt. Weder Kreuzberg noch Berlin noch Deutschland sei einfach nur deutsch, sagt die Schulleiterin: „Wir leben in einem multikulturellen Land, und allein auf der Welt sind wir auch nicht.“ Kinder seien darauf angewiesen, früh zu lernen, wie man sich in einer fremden Welt zurechtfindet: „Darauf muss man sie vorbereiten – und das kann man nur, wenn man nicht so tut, als gäbe es nur deutsch sprechende Christenmenschen auf der Welt.“ Das Material, das den Schülern zu einem realistischen Blick auf die Welt verhelfen soll, musste man an der deutsch-türkischen Europaschule übrigens selbst schreiben.