Mehrheit gegen soziales Pflichtjahr

Keine Begeisterung im Bundestag für Zwang zum Sozialdienst. SPD und Union lehnen Vorschlag überwiegend ab. Grundgesetz und Völkerrecht sprechen dagegen. Liberale werfen Regierung vor, Beschluss über Wehrpflicht absichtlich hinauszuzögern

VON ANDREAS SPANNBAUER
UND CHRISTIAN RATH

Der Vorschlag, ein soziales Pflichtjahr einzuführen, stößt auf heftige Kritik. Wer ein solches Jahr befürworte, habe „nicht alle Tassen im Schrank“, sagte die Bundestagsabgeordnete Ina Lenke (FDP) gestern der taz. Ein Zwang zum Sozialdienst sei „verfassungswidrig“.

Niedersachsens SPD-Fraktionschef Siegmar Gabriel und Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Wolfgang Böhmer (CDU) wollen alle Männer und Frauen zu sozialer Arbeit verpflichten, falls die Wehrpflicht – und damit der Zivildienst – ausgesetzt wird. Auch Peer Steinbrück (SPD), Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, sieht durch ein Pflichtjahr „Gemeinsinn“ und „Verantwortung“ gestärkt. 70 Prozent der Deutschen unterstützen laut einer Forsa-Umfrage den Vorschlag.

Doch Sozialdemokraten und Konservative lehnen die Idee überwiegend ab. „Ich gehe davon aus, dass es dafür keine Mehrheit in der SPD-Fraktion geben wird“, sagte die SPD-Bundestagsabgeordnete Christel Humme der taz. Auch die familienpolitische Sprecherin der Unionsfraktion, Maria Eichhorn, hält nichts von einem sozialen Pflichtjahr. Sie sehe in der Union „keine Mehrheit für eine Verfassungsänderung“, so Eichhorn gegenüber der taz . Die grüne Bundestagsabgeordnete Jutta Dümpe-Krüger nannte die Diskussion gegenüber der taz abenteuerlich. „Ein soziales Pflichtjahr lässt das Grundgesetz nicht zu.“

Vor der Einführung eines allgemeinen Sozialdienstes müsste das Grundgesetz geändert werden. Derzeit erlaubt die Verfassung nur die Einführung der Wehrpflicht und des Ersatzdienstes. Bei einer Änderung des Grundgesetzes kann das Verfassungsgericht nur kontrollieren, ob „Ewigkeitswerte“ der Verfassung wie die Menschenwürde oder der Rechtsstaat verletzt werden. Dies dürfte bei der Einführung eines sozialen Pflichtjahres nicht der Fall sein.

Vermutlich würde eine Regelung zum Pflichtjahr ähnlich ausgestaltet wie der jetzige Wehrpflicht-Artikel: Der Staat kann ein Pflichtjahr einführen, muss es aber nicht. Deshalb müsste vor der konkreten Einführung geprüft werden, ob ein so massiver Eingriff in die Grundrechte überhaupt erforderlich ist – oder ob die Lücken im sozialen System nicht auch mit Freiwilligen gefüllt werden können. Derzeit klagen viele Einrichtungen, dass sie zwar genügend Freiwillige haben, dass ihnen aber die Mittel fehlen, um ihnen das vorgesehene Taschengeld zu bezahlen. Als „milderes Mittel“ müsste der Staat also erst einen attraktiven Freiwilligendienst finanzieren, bevor er einen sozialen Pflichtdienst einführt.

Das Argument mit den Freiwilligen zieht jedoch nicht, wenn es um soziale Erfahrungen für junge Menschen geht. Hierfür würde jedoch ein Pflichtpraktikum während der Schulzeit genügen. Neben dem Grundgesetz sprechen auch acht internationale Verträge gegen ein soziales Pflichtjahr, darunter die Europäische Sozialcharta und die Schlussakte der „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“.

Die FDP-Abgeordnete Lenke warf der Regierung vor, einen Beschluss über die Wehrpflicht absichtlich zu verzögern. Die SPD wolle „den Wehrdienst erst kurz vor der Bundestagswahl 2006 abschaffen“, um Jungwähler für sich zu gewinnen. „Eine Entscheidung über die Wehrpflicht aus taktischen Gründen so lange hinauszuschieben, ist unverantwortlich“, sagte Lenke. Die SPD will ihre Linie zur Wehrpflicht im Juni festlegen. Ein Beschluss soll im Herbst 2005 fallen.