Die Touristenjäger

Mussa und Mike haben einen Traum – bis er in Erfüllung geht, verkaufen sie Schiffstickets nach Sansibar an die wenigen Touristen, die in erster Linie deswegen nach Daressalam kommen

VON KLAUS RAAB

Mussa stand am ersten Abend vor dem Jambo Inn, einer Budget-Absteige, in der das Dreibettzimmer inklusive dreimal zwei Scheiben Toast mit je einem Klatsch bitterer Orangenmarmelade und dreimal einer Tasse Anrührkaffee der Marke „Africafe“ umgerechnet 18 Dollar kostet, erzählte ein wenig vom Leben und wie atemberaubend schön es auf Sansibar sei, und am nächsten Morgen stand er da wieder. Mussa steht da immer. Mussa, und wenn nicht Mussa, dann Mike oder einer der zwanzig anderen. Mussa und Mike sind Geschäftsleute, wie sie sagen. Und sie erzählen nicht grundlos von der atemberaubenden Schönheit Sansibars. Sie wissen, was das Wort „Sansibar“ bei Touristen aus Deutschland oder Schweden oder Großbritannien auslöst. Es ist ein Name wie Timbuktu oder Honolulu. Mystik. Exotik. Palmen. Komische Sitten. Weiter weg geht nicht. Sansibar ist der erste Grund, als Tourist nach Daressalam zu kommen, laut Reiseführer und Hörensagen. Ein guter Grund. Und Mussa verkauft Schiffstickets nach Sansibar. Nicht ganz offiziell. Aber dafür ein wenig teurer.

Mussas Boss hockt in einem kleinen länglichen, holzvertäfelten Büro in einem Seiteneingang in einer Seitenstraße, an dessen Wänden Bilder von Löwen, Nashörnern und einem Sonnenuntergang am Kilimandscharo hängen und in dem ein paar abgewetzte Sessel stehen. Und wenn Mussa Touristen ins Büro bringt, die er überzeugt hat, dass sie ein Schiffsticket nach Sansibar kaufen wollen, dann tippt der Boss etwas ungeübt auf einer Computertastatur herum, starrt in einen Monitor, der so in einem Holzkasten versteckt ist, dass nur er ihn sehen kann, und geht davon aus, dass die Touristen nicht merken, dass am unteren Ende seines Schreibtisches das Computerkabel unangeschlossen auf dem Boden liegt. Der Boss kann eine ganze Flotte von Schiffen und Booten inklusive deren Abfahrtszeiten, der jeweiligen Fahrtdauer, der Preise für die Fahrten und der Vorzüge jedes Schiffes herunterrattern, er ist zu vielen Wiederholungen der Litanei bereit, und am Ende hat man als Tourist entweder einen irgendwie komischen Deal gemacht oder keinen. Der Ort, an den Mike die Touristen bringt, ist ein großes, holzvertäfeltes Büro in einem anderen Seiteneingang in einer anderen Seitenstraße, in dem andere Fotos von anderen Tieren hängen. Mikes Boss kennt dieselbe Bootsflotte und dieselbe Litanei auch.

Mike würde lieber Musik machen als vor dem Jambo Inn rumzuhängen. Aber Musikmachen erfordert Startkapital in einer Stadt wie Daressalam. 150 bis 200 Dollar kostet es umgerechnet, einen Rap-Song aufzunehmen. „Das ist nicht viel“, sagt ein Produzent, womit er Recht hat, im Vergleich der absoluten Kosten. „Aber mehr geht nicht.“ Mehr geht nicht, denn woher 150 bis 200 Dollar nehmen, wenn nicht stehlen, zum Beispiel? Mussa und Mike stehlen nicht, im Gegenteil. Sie sagen ihren Kunden sogar, wann und wo sie ihre in der Regel schwarze Umhängetasche gut festhalten sollen. Mussa und Mike tricksen nur ein wenig. Mussas Tickets nach Sansibar kosten, für das gemütlichste Schiff am Mittag, 25 Dollar, 10 Dollar mehr als am Hafen, aber man kommt auch mit ihnen in Zanzibar Stone Town an. Mussa läuft Touristen durch die Stadt hinterher, redet ohne Punkt und Komma über Reggae und HipHop, lädt sich anschließend zum Abendessen in den Jolly Club ein, zu dem man auch laufen könnte, aber warum, wenn Mussa einen Taxifahrer zum Freund hat, der auch einen Umweg fahren kann. Und nachdem er den Touristen zurück zum Jambo Inn hinterhergelaufen ist, will er Geld für die Stadtführung. Mike tut dasselbe. Nur lädt er sich statt zum Essen in den Jolly Club zum Bier ins Bilicanas ein.

An vielen Tagen kommen nicht genug Touristen. Denn das Glück liegt nicht wirklich auf der Straße in Daressalam, auch wenn man das auf dem Land in Tansania glaubt. Von allen neuen Arbeitskräften, die jedes Jahr auf den Arbeitsmarkt in Daressalam stoßen, bekommen 1,5 bis 5 Prozent eine Arbeit, eine Arbeit mit Vertrag und Rechten und Pflichten. Wenn Mike an einem Tag mal 20 Dollar verdient, dann gibt er mindestens 15 davon sofort mit Freuden und Freunden aus: für ein ordentliches Essen, für seine Biere und die Biere seiner Kumpels. Wenn er 2 Dollar verdient, reichen ihm halt auch 2 zum Leben.

Das sozialistische System, das Julius Nyerere, der erste Präsident nach der Unabhängigkeit Tanganjikas, installiert hat, ist Vergangenheit, doch Nyerere, der für seinen afrikanischen Weg auch in westlichen Gesellschaften noch post mortem den vielleicht größten Respekt aller afrikanischen Politiker hinter Nelson Mandela genießt, wird geliebt in Tansania. Sein Konterfei hängt – und es ist kein staatlicher Zwang dahinter – in den meisten Geschäften, Banken, Büros und manchen Privathäusern. Das Konterfei des heutigen Präsidenten, Benjamin Mkapa, kommt erst auf Platz zwei.

Nyereres Politik des ujamaa, des afrikanischen Sozialismus, ist gescheitert, aber ujamaa ohne Politik ist irgendwie noch da – in der gemeinschaftlichen Sprache Kiswahili, die Nyerere als Gemeinschaftssprache für die vielen ethnischen Gruppen Tansanias einführte, die friedlich zusammenleben, was die Tansanier sehr stolz macht angesichts der Krisen um sie herum; und auch in der Bewertung von Eigentum. Possessivpronomina sind fließende Begriffe. Dein und mein, so unterschiedlich ist das nicht. Wer eine Zeitung kauft, liest die deswegen noch lange nicht automatisch als Erster. Und wer einen freundlichen Touristen gefunden und nun ein wenig Geld hat, der lädt seine Jungs auf Bier ein. Das ist die Regel. Und deswegen verstehen Mike und Mussa und die zwanzig anderen auch nicht, warum man sich als Tourist manchmal über sie ärgert. Touristen haben Geld. Sie haben keines. Und Mike will die Touristen ja auch als Freunde haben. Und Freunde helfen einander. Also was soll der Terz.

Es habe einmal einen Bombenanschlag in Daressalam gegeben, vor ein paar Jahren, „die amerikanische Botschaft: bum“, sagt Mike, und das sei wohl der Grund, warum in diesem Jahr wieder nicht so viele Touristen nach Daressalam kämen. Dass es im Frühsommer eine Reisewarnung für Tansania gegeben hat, dass es von Deutschland aus kaum möglich ist, eine pauschale Tour durch Tansania zu buchen, mit Fahrer, Sternehotel und zweimal Buffet am Tag, ohne in Kenia zu starten und zu enden – also weit weg von Daressalam –, das alles weiß er nicht. Die einzigen Zahlen, die ihn sehr interessieren, stehen auf Geldscheinen, weil sie so elementare Dinge wie etwas zu essen bescheren können oder, wenn die Zahl groß genug ist, diese tighten blassgelben Timberland-Schuhe, die er in einem Magazin an den Füßen eines amerikanischen HipHoppers gesehen hat. „Yeah“, sagt Mike. „Professor Jay hat die auch.“ Professor Jay, einer der bekanntesten Rapper Daressalams, hat die erstens auch und es zweitens dorthin geschafft, wo Mike gerne wäre. In „Zali la Mentali“ singt er über einen Straßenjungen, der mit Geschick und ordentlich Hirn die Liebe einer reichen Frau erlangt.

Die Jugendlichen in Daressalam verkaufen Schiffstickets nach Sansibar, Socken, Zigaretten, selbst zusammengestellte Kassetten, selbst gemachten Schmuck oder ihre Dienste als Autowäscher. Aber eigentlich wären sie gerne Rapper. Mike träumt auch, während er mit den Füßen in ausgelatschten Timberland-Imitaten, deren Sohlen sich an mindestens drei Stellen ablösen, fest auf dem Boden der Tatsachen steht und Touristen abfängt. Er hat vorsorglich seinen Rap-Song aufgeschrieben. Nur um nicht unvorbereitet zu sein, wenn dann irgendwann irgendwo irgendwie irgendetwas passiert.