Schublade auf, Schublade zu

In Andreas Walters szenischem Assessmentcenter „Green Card“ können sich Kandidaten vor einem Publikum selbst darstellen. Doch meistens werden sie durch ihre an die Wand projizierten Bilder aus dem Fotoalbum entlarvt

Die Frage kommt nüchtern aus dem Off: „Erzählen Sie etwas über sich.“ Die gut aussehende Kandidatin auf dem Barhocker, Typ Superfrau, schlank, mit streng zurückgekämmtem Haar, legt los: „Ich bin 37, obwohl ich ja schon seit einigen Jahren 28 bin, verheiratet und habe ein Kind. Klingt spießig, ist es ja auch.“ Und auf die Frage, was sie im Job macht, antwortet sie: „Ich versuche Menschen dahin zu bekommen, wohin ich sie haben will. Manchmal muss ich sie dazu zwingen.“ Der andere Kandidat neben ihr, Typ erfolgloser Künstler, sagt auf die Frage, warum er in Berlin lebe: „Weil ich hier in Ruhe gelassen werde.“ Seine Ziele: „Dass ich meinen Scheiß gebacken kriege, Geld habe und mein Kühlschrank voll ist.“ Schublade auf, Schublade zu. Passt doch.

Acht Kandidaten hat Andreas Walter zum szenischen Assessmentcenter „Green Card“ eingeladen. Er ist die Stimme aus dem Off. Auf seine fingierten Bewerberfragen hin versucht sich jeder von seiner Schokoladenseite zu zeigen. Die Teilnehmer entscheiden selbst, wie weit sie gehen wollen: Ob sie ehrlich antworten oder wie gedruckt lügen. So zieht sich mancher bis aufs Hemd aus oder antwortet schlagfertig – und hat so die Lacher auf seiner Seite. Denn vor den Kandidaten sitzen nicht etwa Personalchefs in grauem Zwirn, sondern Zuschauer bei Rotwein oder Flaschenbier – Voyeurismus pur.

Während sich die von einem Spot angestrahlten Bewerber in Zweierformationen im dunklen Raum vom „Haus der Sinne“ in Prenzlauer Berg auf ihren Hockern winden oder zu Höchstform auflaufen, kann sich der Zuschauer durch die an die Wand projizierten Fotografien aus dem Familienalbum sein eigenes Bild von der Entwicklung des Kandidaten machen. Bilder mit Sandkastenfreunden, Kinderfasching, dem Pfadfinderlager, der Konfirmation oder Jugendweihe, erster Dauerwelle und Besäufnissen mit der Clique – eine intime Entdeckungsfahrt, die oft mehr zu sagen weiß als die Worte der Kandidaten.

Die Superfrau, sehen wir, hat eine Kindheit wie jedes andere Mädchen durchlaufen. Im Kindergarten trug sie ein Blumenkostüm und war als Teenager im Ferienlager. Dann kam der Bruch, die rebellische Phase mit kahl rasiertem Schädel und individuellen Rucksackurlauben, später der Babybauch, und irgendwann der knallharte Job in einer Kommunikationsagentur. Die Haare auf den Zähnen nimmt man ihr ab.

Schnitt, schon geht es weiter mit den nächsten Kandidaten. Eine Frau rutscht nervös auf ihrem Stuhl herum. Sie spricht sehr leise und kann nicht beschreiben, wie ihre Freunde sie charakterisieren würden. Anders ihre Mitstreiterin. Sie erzählt von ihrer viel zu jungen Mutter und ihrem viel zu alten Vater „Aber viel Geld hat er leider nicht“, sagt sie schulterzuckend.

Dann kommt der Beau: Der attraktive Außendienstmitarbeiter scheint es als Einziger richtig gemacht zu machen. Morgens bekommt er von seiner Freundin den Kaffee ans Bett gebracht, absolviert nach der Arbeit sein Fitnessprogramm, bis es abends wieder in die Wohnung mit den abgezogenen Dielen, der neu gemachten Küche und der hochschwangeren Freundin geht. Inwieweit sein Glück inszeniert ist, steht in den Sternen. Sein Interview-Nachbar hat auch abgezogene Dielen. Allerdings reißt ihn morgens nur ein Wecker aus den Träumen. Seinen Job als Tischler hat er verloren, weil sein Chef pleite ist. Jetzt versucht er sein Glück in einer ähnlich aussichtslosen Branche: als Architekt. Aber es gibt auch Positives zu verbuchen: Seit längerer Zeit hat er einen konstanten Mitbewohner – nach achtzehn Versuchen. Scheitern als Chance. Damit kann man beim Publikum punkten. Am Konkurrenzdruck unter den Teilnehmern kommt keiner vorbei.

Andreas Walter, ehemaliger Geschäftsführer der Kulturfabrik Lehrter Straße, jetzt Buchhändler und Initiator des Theaterprojekts „Interpicnic“, in dessen Rahmen „Green Card“ läuft, möchte mit seinem Projekt niemanden bloßstellen, sondern Leute zu Wort kommen lassen. Teilnehmen kann jeder. Doch damit es beim Seelenstriptease nicht wie bei den Gästen der Nachmittagstalkshows zu psychischen Nachwirkungen kommt, können die Kandidaten beim Vorgespräch unangenehme Fragen von der Liste streichen. Denn so spielerisch das Outing vor Freunden und Bekannten auch daherkommt: Seine Wirkung aufs Seelenleben sollte man nicht unterschätzen.

KATJA WINCKLER

Info: Bewerbungen fürs nächste Assessmentcenter bei Andreas Walter unter ☎ 29 00 67 35, www.interpicnic.de