Im weißen Meer der Berge

„Es gibt nur eine Heilkraft, und das ist die Natur.“ Wer würde diesen Ausspruch Arthur Schopenhauers bezweifeln, wenn er den Philosophenweg auf dem Muottas Muragl geht. Der Berg im Engadin, jenseits der Spuren der Skiweltmeisterschaft in St. Moritz

von KORNELIA STINN

Wer in diesen Wochen auf den Piz Nair (3.057 m) hochgondelt, möchte vor allem auf den Spuren der Skiweltmeisterschaft in St. Moritz wandeln. Mehr als einen neugierigen Blick wird er in die gleiche Richtung werfen, wie dies der monumentale Steinbock, das Wahrzeichen Graubündens, von dieser Stelle aus tut. Eine teuflische Piste ist das, die steiler ihren Anfang nimmt, als es sich je zuvor eine WM Piste wagte! Doch das Oberengadin hat noch mehr atemberaubende Ausblicke zu bieten, auch jenseits spektakulärer Skiabfahrten. Lässt man nämlich seine Augen von hier oben aus ein wenig umherwandern in der Bergparade der Winterwelt, entdeckt man ganz in der Nähe eine sanfte, sonnenverwöhnte Kuppe. Wie ein Petit Four auf dem Sahnerücken einer Festtagstorte thront darauf ein weithin sichtbares Berghotel in Zuckerbäckerrosa. Eine Standseilbahn, die auf nur vier Kilometern gut 700 Höhenmeter überwindet, keucht den größten Teil ihrer Strecke beinahe senkrecht hinauf. Muottas Muragl. Der Name, der auf der Zunge zergeht wie Schokolade, bürgt für feinste Aussichten.

Ein gemütlicher Winterwanderweg, der Philosophenweg, schlängelt sich hier oben auf der Sonnenterrasse durch die hohen Schneemassen von 2.450 Meter bis hinauf auf 2.800 Meter. Ja, ins Philosophieren kann man da schon geraten, wenn man so über den Dingen steht, mitten im weißen Meer der Berge! Statt dass einem die steilen Pisten einen Schauer über den Rücken jagen, rücken sie freundlich auseinander, um die Oberengadiner Seenplatte zu bergen. Das kristallglitzernde Eis des Moritzersees lockt schon die Pirouettenfreunde auf die blanke Fläche. Bis an die Grenzen des Bergell reicht der lang gestreckte Taleinschnitt von St. Moritz bis Maloja. Ein Tal, umgeben von einer Welt, die ansonsten nur Berge zu kennen scheint. Und die Berge, die in ihrer unüberschaubaren Vielzahl zum Konzert antreten, rücken einem dennoch nicht zu dicht auf die Pelle.

Selbst Markus Meili, Geschäftsführer der Muottas-Muragl-Bahn, kennt nicht die Namen aller Gipfel, die ins Blickfeld drängen. Die wichtigsten nennt er: „Links der Piz Rosatsch (3.123 m), weiter hinten taucht der Piz Tschierva (3.546 m) auf und ganz hinten der Piz Bernina (4.049 m), das Höchste, was das Engadin zu bieten hat.“ Mit der Bergbezeichnung ist das fast so wie mit den Rangzuweisungen bei der Weltmeisterschaft. Sie sind in „Kategorien“ eingeteilt. „Der Piz, der ist das Höchste“, erklärt Meili, darunter kommt der ‚Munt‘ und schließlich der Muottas. Das heißt ‚Hügel‘.“ Dann sind wir hier also auf dem Hügel Muragl! Was aber heißt denn nun Muragl? Das sei sehr schwierig festzustellen, verschiedene Übersetzungsversuche gebe es da, erklärt Meili. Man kann nur philosophieren über den Sinn des Wortes, der möglicherweise von müraglia kommt. Das heißt zu Deutsch „Gemäuer“ oder „steiniges Gebiet“.

Jedenfalls ist der Philosophenweg kein Weg zum zünftigen Voranschreiten, sondern eher einer zum Verweilen. Immer wieder verweilen und hinunterschauen von einer der zahlreichen Bänke aus. Der ganz schmale lange Talkessel, das ist das Val Roseg, wild und ursprünglich, wie Meili erklärt. Mit dem Pferdeomnibus, der nach ordnungsgemäßem Fahrplan verkehrt, kann man sich gemütlich hindurchkutschieren lassen. Man sieht auch gut den Hauptort des Oberengadins, Samedan. Und das kleine Kirchlein mit der Turmruine auf dem Hügel in den verschneiten Wiesen ist San Gian, das Wahrzeichen der Region. Verweilen und hinunterschauen in die weite weiße Welt, die ihre Gipfel darüber spannt. Verweilen auch bei den Worten der Philosophen, die aus gutem Grunde hier oben ihren Ort gefunden haben.

„Es gibt nur eine Heilkraft, und das ist die Natur.“ Wer würde diesen Ausspruch Arthur Schopenhauers bezweifeln, während er tief die Bergluft einatmet und spürt, wie die Lungen Freiheit einsaugen. Und auch Nietzsches „In der Natur fühlen wir uns wohl, weil sie kein Urteil über uns hat“, scheint hier durch die Natur selbst erfahrbar zu werden. Nietzsche, der von 1881 bis 1888 die Sommer in Sils Maria verbrachte, hatte eine besondere Bindung an die Region. „Das Engadin hat mich dem Leben wiedergegeben“, sagte er, der hier Heilung von seiner Nervenkrankheit suchte. Noch heute kann man das Haus anschauen, wo er wohnte, mit der Ausstellung von Originalschriften, Briefen und seinem Basler Studierzimmer.

Wen wundert’s, dass sich angesichts eines solchen Panoramas auch der Maler Giovanni Segantini (1858–1899) angezogen fühlte? Gegenüber auf dem Schafberg steht seine Hütte, hier suchte er Inspiration und schwärmte von dem besonderen Licht. Sein Alpen-Triptychon „Werden – Sein – Vergehen“ ist eine Hommage an die Engadiner Bergwelt und die Menschen, die dort leben, ein Stück gemalte Philosophie. Zu betrachten ist das Lebenswerk des Künstlers im Segantini Museum in St. Moritz. Und zu seiner Hütte, da kann man im Sommer von hier aus hinwandern. Man erkennt sie als winzigen Punkt.

Während der Weg beharrlich nach oben strebt, drängt sich auch der Piz Muragl (3.157 m) mehr und mehr ins Blickfeld. Die Seenplatte gerät außer Sicht. Schließlich ist oberhalb des kleinen, zugefrorenen Bergsees Lej Muragl auf der anderen Bergseite mit 2.800 Metern der höchste Punkt des Weges erreicht. Ein letzter Markierungsstab, ein letztes grünes Schild. Diesmal mit einem Ausspruch des Philosophen Immanuel Kant: „Tue das, wodurch du würdig bist, glücklich zu sein.“ Darüber muss man vielleicht ein wenig länger nachdenken. Dieser Ort ist dafür geeignet. Ein paar Bänke könnten gerade an dieser Stelle nicht schaden. Zügig strebt ein Tourengeher abseits des Weges kühneren Höhen entgegen. Piz Muragl? Oder Piz Languard? Besonders gerne sieht Meili Vertreter dieser Gattung nicht. „Ich will nicht schwarz malen“, sagt er, „aber häufig sind es die Tourengeher, die die Lawinen lostreten, indem sie sich nicht an unsere Routenempfehlungen halten.“

In großzügigen Schwüngen windet sich der Weg nun durch sonnige Schneefelder auf höherer Ebene als zu Beginn gemächlich wieder zurück. Drei Schlaufen gestalten den panoramareichen Winterwanderweg zu Runden von unterschiedlichen Weglängen. Diese Strecken betragen dreieinhalb, fünf und sieben Kilometer. Überall trifft man auf gleichermaßen gute Wegverhältnisse. „Jeden Abend“, so Meili, „spurt die Pistenwalze den gesamten Weg. In der Nacht überfriert das dann, und man kann bequem hierher gehen, ohne immer wieder einzusinken.“

Gut drei Meter breit ziehen sich die sanften Furchen durch den hohen Schnee. Die langen Stangen mit den breiten orangefarbenen Reflektoren, angebracht in überschaubaren Abständen, zeigen auch bei Nebel deutlich, wo es langgeht. Wenn die Wolkenschleier den Berg einhüllen und jede Aussicht abschneiden, wird aus dem Muottas Muragl ein „Muottas-Mirakel“, das es durchaus auch nach philosophischen Impressionen zu befragen gilt. Bis zum Piz Nair aber – dem „Schwarzen Berg“ – kann man dann nicht mehr sehen. Und auch der Bündner Steinbock sucht dann vergeblich nach dem Zuckerbäckerschlösschen auf dem Muottas Muragl.

Weitere Informationen: Statt mit der Seilbahn kann man auch auf dem rasanten Schlittenweg vom Muottas Muragl nach unten gelangen. Wer so naturnah wie möglich hier oben übernachten will, kann sich unter Anleitung sein Iglu bauen. Schweiz Tourismus , Postfach 16 07 54, 60070 Frankfurt Info-Telefon für Prospektbestellung und Buchung: +800 100 200 30 (kostenlos, europaweit) www.myswitzer land.com, info.de@switzerland.com Muottas Muragl Bahn CH 7503 Samedan, Tel. +41 81 8 42 83 08 Fax: +41 81 8 42 65 71, mmb@skiengadin.ch, www.muottas muragl.ch Ferienregion Engadin, Postfach 54, CH-7505 Pontresina Tel. +41 81 8 42 65 73 Fax: +41 81 842 65 25, info@engadin.ch, www.engadin.ch