Der alte Mann und die Soldaten

Ludwig Baumann, einer der letzten noch lebenden Wehrmachts-Deserteure, in Aktion am Bremer Hauptbahnhof. Der 81-Jährige ruft zur Kriegsdienstverweigerung auf und seine Mitstreiterinnen bemerken: „Im Moment ist die Öffentlichkeit auf Frieden eingestellt“

taz ■ Die Frauen vom Bremen-Norder Friedenskreis haben jahrelange Erfahrung im Verteilen von Flugblättern. Sie kennen schneidende Kälte, unwirsche Passanten und abfällige Kommentare – aber gestern am Bremer Hauptbahnhof war die Stimmung gut.

„Man merkt, dass die Öffentlichkeit im Moment auf Frieden eingestellt ist“, sagt eine der gestandenen grauhaarigen Damen, die angesichts der Irak-Krise zur Kriegsdienstverweigerung aufrufen. Und manchmal können sie sich sogar amüsieren, wie über den verlegenen Herrn, der ihr Flugblatt partout nicht annehmen kann – weil er beim Kreiswehrersatzamt arbeite.

Der Senior der Gruppe ist Ludwig Baumann, bundesweit bekannt als Kämpfer für die Rehabilitierung der Wehrmachts-Deserteure. 1942 hatte er sich absetzen wollen, wurde aber gefasst und überlebte den Krieg schließlich im KZ.

Seit 20 Jahren geht Baumann regelmäßig auf die Bahnsteige, um junge Soldaten zur Verweigerung zu bewegen – unterbrochen nur 1987 durch ein Aufenthaltsverbot im Bremer Bahnhof wegen „Behinderung des Reiseverkehrs“. Den Bahnsteig Fünf für den Zug nach Vegesack sowie das Bahnhofsklo durfte er nur eskortiert betreten, bis das Verbot schließlich vom Oberlandesgericht kassiert wurde.

Baumann ist alles andere als ein dogmatischer Prediger. Der zierliche Mann mit dem feingeschnittenen Gesicht spricht sehr präzise und unaufgeregt, geht mit dem schlichten Satz „ich weiß, wie der Krieg ist“ auf die in Grüppchen herumstehenden Jungsoldaten zu. Deren Reaktionen reichen von „will ich mir gar nicht anhören“ über ein erstauntes Sinkenlassen der Bierdose bis zum interessierten „ich werd’ das Flugblatt mal lesen.“

Von Baumanns eigenen fünf Söhnen haben sich der Älteste und der Jüngste für die Bundeswehr entschieden – was Baumann wohltuend gelassen kommentiert: „Manchmal muss man gegen seinen Vater eben opponieren.“ Schließlich hat auch er sich keineswegs in die Fußstapfen seines Vaters begeben, eines Hamburger Großkaufmanns mit besten Beziehungen bis hinein in die Wehrmachtsführung. Diesem Einfluss wiederum ist zu verdanken, dass Baumanns Todesurteil in eine Zuchthausstrafe umgewandelt wurde, was ihm allerdings erst nach sieben Monaten Haft mitgeteilt wurde. Zuvor rechnete er jeden Morgen beim Wachwechsel mit dem Kommen des Erschießungskommandos.

Wenn Baumann bei den jungen Soldaten auf dem Bahnsteig Gehör für seine Lebensgeschichte findet, treffen sich Welten. Und trotzdem wirkt er keineswegs wie ein Mahner aus dunklen Vorzeiten, sondern hat eine beneidenswerte Präsenz und Leichtigkeit im Umgang mit den 60 Jahre Jüngeren. „Auch Randerscheinungen können das Bild der Welt verändern“, sagt der 81-Jährige über seinen Einsatz.

Henning Bleyl