Sechs Belgier für Ailton

Wird Werder Meister? Wird der Space Park sein „soft opening“ überleben? Werden weitere architektonische Meisterwerke in Bremen geschändet? Und welche Bäder machen eigentlich im Sommer auf? Im vorauseilenden Jahresrückblick verraten wir heute schon, was 2004 gewesen sein wird…

6. Januar: Das Jahr beginnt ungewöhnlich: Obwohl sich eigentlich keiner der Senatoren öffentlich zu irgendetwas äußern möchte, wird die Dienstags-Pressekonferenz des Senats nicht wie üblich kurzfristig abgeblasen. Die Senatskanzlei verteilt stattdessen in herzlichem Ton gehaltene Pressemitteilungen, in denen „die lieben Kollegen und Kolleginnen zu einem Event der ganz besonderen Art ins Musical-Theater“ eingeladen werden. Die Journalisten machen ausgebuffte Gesichter, sind aber im Grunde doch sehr verunsichert. Soll etwa der Abriss des Space-Parks verkündet werden? Gibt es eine neue Interpretation des Kanzlerbriefes? Schließt Daimler Chrysler und ist deswegen eh schon alles egal? Erstes Anzeichen dafür, dass etwas noch Unvorstellbareres stattfinden wird, sind zwei Menschen, die plötzlich über die Bühne hopsen, um die skeptisch dreinschauenden Berichterstatter aufzulockern: Michelle Hunziker und Carsten Spengemann, bekannt aus der Show „Deutschland sucht den Superstar“. Dann Auftritt des Bürgermeisters Henning Scherf, der von „unserem kleinen Bundesland“ spricht und von einer „Medienstadt“ und davon, dass man „in diesen schwierigen Zeiten auch mal zu ungewöhnlichen Methoden greifen muss“. Alle wüssten ja, hebt er an, dass er, also Scherf, also der Bürgermeister, 2005 abtreten wolle und 2004 also ein Nachfolger – oder wenn es sein muss auch eine Nachfolgerin – gesucht werden müsse. Und zwar in der „Bremen sucht den Superbürgermeister“-Show (BSSB). Teilnehmen dürfen, so diktiert er den Journalisten in die Feder, alle, die ein Glas heißes Wasser runterkriegen und so tun können. In der Jury: der amtierende Super-Bürgermeister Henning Scherf (SPD), der Leiter von Scherfs Senatskanzlei Reinhard Hoffmann und Scherfs Sprecher Klaus Schloesser. Für die Bremerhaven-, Frauen- und CDU-Quote wird kurzfristig die Nachwuchspolitikerin Cathrin Hannken berufen. Ein weiterer Vorteil: Sie ist weit unter 50 und hat die RTL-Show „Deutschland sucht den Superstar“ mal gesehen.

12. Januar: Obwohl Radio Bremen Intendant Heinz Glässgen in mehreren Depeschen an das Rathaus versichert, man werde die Sache selbstverständlich unterstützen und keinen kritischen Kommentar im Hause dulden, werden die Übertragungsrechte einem neu gegründeten Privat-Sender in Landesbesitz, der Bremen Broadcasting Gesellschaft (BBG) übertragen.

20. Januar: Die Bürgerschaft ist fertig renoviert. Dennoch herrscht allenthalben Unzufriedenheit. Die Sprechanlage funktioniert nicht, die Kaffeemaschine auch nicht, die Reden werden auch nicht besser und die neuen Sitze sind unbequem. Acht Parlamentarier, die der ganzen Sitzung beiwohnen, sind hinterher am gebückten Gang zu erkennen. Staatsgutachter Frank Haller sagt im Vorgriff auf ein zu erstellendes Gutachten: „Welche Pappnase will eigentlich noch Abgeordneter werden, wenn man erstens nix verdient und zweitens sich den A… wund sitzt“. Er plädiert für den Abriss der Bürgerschaft und einen Neubau im Technologiepark.

22. Januar: Die Premiere der „Zehn Gebote“ in der Friedenskirche geht ohne großes Aufhebens über die Bühne. Statt zehn nackten Näherinnen über 60 treten jetzt zehn nackte Pastoren unter 40 auf. Die hannoversche Landesbischöfin Margot Käßmann, eigens angereist, hat sichtlich Spaß.

12. Februar: Heute eröffnet der Space Park nach einer zweimonatigen „soften“ Probezeit. Kanzler Schröder hält eine sehr knappe Rede, die insgesamt als unwirsch empfunden wird. Später sieht man, wie er Henning Scherf zur Seite nimmt und ihn anraunzt: „Wenn du mich nochmal so ’ne Pappschachtel eröffnen lässt, dann kannst du dir deinen Tiefwasserhafen aber ganz gepflegt in die Haare schmieren.“ Scherf rümpft ob dieser derben Ausdrucksweise die Nase, sagt sonst aber nichts mehr. Der Bremer Touristik-Chef Peter Siemiering wird in stark angeheitertem Zustand und untergehakt beim Chef der Hanseatischen Veranstaltungs-GmbH Michael Göbel auf dem Weg zur Space-Achterbahn gesehen. Wie schon beim soft opening werden auch heute bis auf Scherf nur CDU-Größen angetroffen. Man munkelt, SPD-Fraktionschef Jens Böhrnsen bereite sich auf seinen Gig bei der BSSB-Show vor.

1. März: Spaziergänger an der Weser berichten von grausigen Geräuschen, die aus dem neuen Mantelbau am Weserstadion drängen. Auch seien übel riechende Dämpfe aus den Betonritzen gedrungen. Untersuchungen bleiben ergebnislos.

18. März: Der Senat beschließt gegen die Stimme von Finanzsenator Ulrich Nußbaum den Abriss der Bürgerschaft. Sie genüge heutigen Ansprüchen nicht mehr. Während Henning Scherf anordnet, die Abgeordneten sollen sich einfach reihum in den Wohnzimmern treffen, macht Nußbaum einen Vorschlag zur Güte: Das Parlament mietet die leeren Hallen des Space Center-Einkaufsparks. Nach anfänglichem Murren stimmen SPD und CDU zu. Für die Grünen kommentiert Klaus Möhle: „Wir haben das da hinten ja nie gewollt.“

20.März: Das erste Casting wird live übertragen. Die Grünen-Fraktionschefin Karoline Linnert tritt auf mit einem selbst geschriebenen Sanierungskonzept. Scherf verschwindet noch während Linnerts Auftritt in den Kulissen. Der Rest der Jury starrt desinteressiert an die Decke.

18. April: Drei Monate nachdem der Senat den Abriss des historischen Parlamentsgebäudes beschlossen hat, protestiert die Architektenkammer aufs Schärfste dagegen. Von nun ab erreichen wöchentlich sechs Leserbriefe gegen den Abriss die taz, jeder zweite stammt von Ex-Staatsrat Manfred Osthaus. Die taz füllt damit vorübergehend die Nord-Seiten. Die Hamburger Leser zeigen sich erstaunt, aber wohlwollend.

24. April: Aus der Weser wird eine Leiche geborgen, die bis zur Unkenntlichkeit entstellt ist. Als die tagesschau ein Bild zeigt, ruft Naddel in Bremen an. „Das iihiihist Diiiieter, meiiin Diieter“, schluchzt sie. Tatsächlich wird Dieter Bohlen an seinem Gebiss und den sekundären Geschlechtsmerkmalen identifiziert. Ein Bekennerschreiben erreicht die taz: „K.g.d.B-C.“ ist es unterzeichnet. Aus nahe liegenden Gründen beauftragt die taz Pastor Motschmann mit der Exegese. Er identifiziert: Es handelt sich um das „Kommando gegen das Bürgermeister-Casting“. Weitere Ermittlungen der Polizei verlaufen im Sande.

12. Mai: Erneut vernehmen Passanten unheimliche Laute aus dem Weserstadion. „Urrrgh- AAAhhhhhhhhh - Oioioioioi“ zum Beispiel. Dann eine weinerliche, aber deutliche Stimme: „Ich hasse Belgier. Ich wollte einen Brasilianer“. Die Polizei entdeckt bei einer erneuten Durchsuchung des Mantelbaus ein riesenhaftes Labor hinter einer Geheimtür. Mittendrin: ein kreuzunglücklicher Sportdirketor Klaus Alloffs, der offenbar schon seit Monaten versucht, aus dem Ohrenschmalz von Ailton einen neuen brasilianischen Stürmer zu klonen. Stattdessen sind, wie gesagt, Belgier, sechs an der Zahl, den mannsgroßen Reagenzgläsern entstiegen.

22. Mai: Bundesliga-Ende. Der Osterdeich bebt, Werder Bremen vergeigt im letzten Moment die Meisterschaft. „Es ischt weschen Alloffs“, weint Spieler Micoud, „är wollte nischt verpflischten die Bälgiärr, aber pourquoi pas? Das ischt fascht wie eine Frrrranzöse. Warum er nischt mögen??“ Thomas Schaaf ist die Ruhe selbst. Es heißt, auch er denke über eine Teilnahme an der Bürgermeister-Show nach.

23. Mai: Zweites Casting: CDU-Hoffnungsträger Jens Eckhoff bewirbt sich und begeistert mit seiner Darbietung – eine kunstvolle Balance zwischen übersteigertem Populismus und echten Macherqualitäten – einen Teil der Jury. Überhaupt nicht angetan ist dagegen das Publikum, das bereits ankündigt, Eckhoff bei der ersten Gelegenheit aus dem Rathaus zu wählen. Im Weser-Kurier erscheinen 342 Leserbriefe, ob dieser elende Bausenator denn nichts Besseres zu tun habe, als in der Öffentlichkeit „den Breiten zu machen“. Daraufhin lässt ihn auch die Jury nachträglich disqualifizieren.

1. Juni: Es fällt auf, dass seit der Space-Park Eröffnung im Februar sowohl Tourismus-Siemering als auch Veranstaltungs-Göbel nicht wieder aufgetaucht sind.

2. Juni: Eine Nachricht erschüttert Bremen. Finanzsenator Ulrich Nußbaum sollte mit vergifteten Fischstäbchen aufs Krankenlager geworfen werden. Die in den Pressfisch injizierte Substanz, so Wissenschaftler von der Bremer Uni, sollte das Gehirn in einem äußerst schmerzhaften Prozess auf Bremer Größe schrumpfen. Eine eilends einberufene Sonderkommission entdeckt schließlich auf einem der Fischstäbchen den Abruck eines Reliefs, das es nur im Sitzungssaal des Bremer Rathauses gibt. Die Ermittlungen werden daraufhin eingestellt. Ulrich Nußbaum quittiert auf Wunsch seiner Familie den Dienst. Scherf lächelt gönnerhaft und sagt schulterklopfend zu Nußbaum: „Für einen Anfänger hast du ganz gut durchgehalten.“

13. Juni: Europawahl. Nachdem die Grünen dank dem unermüdlichen Wahlkampf-Einsatz von Joschka Fischer, Daniel Cohn-Bendit und Klaus Möhle ein überwältigendes Wahlergebnis erzielt haben, gelingt es der Bremer Bürgerschaftsabgeordneten Helga Trüpel wider Erwarten doch noch, ein Mandat für das Europäische Parlament zu ergattern. Sichtlich enthusiasmiert und mit roten Flecken im Gesicht umarmt sie jeden, der sich ihr in den Weg stellt. Dann klingelt ihr Telefon. „Dany, Dany! Wir haben es geschafft“, schreit sie in ihr Handy.

26. Juni: Noch ist niemand in die zweite Runde zum Recall in die BSSB-Show eingeladen. Vielleicht heute: Der SPD-Fraktionsvorsitzende Jens Böhrnsen interpretiert eine Scherf-Rede neu. „Liebe Mitbürger und Mitbürgerinnen, meine geliebten Bremer. Ich freue mich, dass Sie so zahlreich und so weiter.“ Nach dem Vortrag nähert sich Böhrnsen steifen Schrittes der Jury und versucht, die Mitglieder zu umarmen. Scherf sitzt einen Moment wie versteinert da und schnauzt dann seinen Parteigenossen an: „Die Leute wollen unterhalten werden, Jens. Bei dir kommt nichts rüber, gar nichts. Keine Emotionen, nur Inhalte! Setzen, Sechs, bitte nie wieder antreten!“

27. Juni: Die Freibadsaison beginnt mit Verspätung, da sich niemand mehr genau erinnern kann, welche Bäder bereits dichtgemacht sind, welche erhalten bleiben und welche zu Naturbädern umgebaut werden sollen. Die Koalitionäre befinden sich mal wieder mitten in einer Krise, als die beiden CDU-Kollegen Bausenator Jens Eckhoff und Sportsenator Thomas Röwekamp die Diskussion mit einem beherzten Sprung ins Wasser beenden. Auf der Brust haben sie sich ein „I love das Horner Bad und die anderen auch ein bisschen“ in die Behaarung rasiert, beziehungsweise gemalt.

30. Juni: In letzter Minute wird die Bewerbung Bremens zur Kulturhauptstadt 2010 beim Auswärtigen Amt eingereicht. Es heißt, dass sich im Anhang ein so genannter Kanzlerbrief befinde, in dem dieser zusichert, dass er die Bewerbung für Bremen durchboxen wird. Das Schnürschuh-Theater soll zum Büro der Bewerbungsphase werden.

8. Juli: Die Sommerferien beginnen, alle Statisten fahren in den Urlaub, nun lässt es sich nicht mehr verbergen: Der Space Park ist ein Superflop. taz-Recherchen ergeben: Wären nicht alle von Hartz III betroffenen Menschen in der Hansestadt gezwungen worden, mehrmals am Tag den Eingang am Space Park zu passieren und mit gezwungen guter Laune den Vergnügungsteil zu benutzen – es wäre schon viel früher Schluss mit lustig gewesen. Als Space Park Sprecher Wilke nun das offizielle Ende verkündet und dann auch den Stecker der Achterbahn endgültig rauszieht, torkeln mit immer noch flatternden Wangen die vermissten Siemering und Göbel aus der Bahn. „Mann, war das geil, das Ding ist ein voller Erfolg“, johlen die beiden, den Abdruck des Sicherheitsgurtes tief in den Gliedmaßen eingegraben.

9. September: Eine neue Folge von „Bremen-sucht-den-Super-Bürgermeister“ flimmert über die Bremer Bildschirme. Man sieht zunächst nur die Jury, die sich grölend auf und unter den Tischen wälzt, nicht aber, wer oder was sie so erheitert. Schließlich fasst Scherf sich als erster wieder: „Nichts für ungut, Detlev. Wir dachten schon, du wolltest dich bewerben.“ Es wird mangels neuer Talente eine längere Pause für die beliebte Sendung vereinbart.

27. Oktober: Das Bürgerbeteiligungsverfahren zur Zukunft des Stadionbades wird vorzeitig abgebrochen, da im Chlor eine nur im Schwimmerbecken des Stadionbades vorkommende neue Lebensform entdeckt wird. Die Bazille wird nach ihrem Entdecker Jens Eckhoff benannt und nach EU-Vorschriften als gefährdet eingestuft. Das Naturbad ist ab sofort kein Thema mehr. Der alte Kämpfer für Baum und Tier Gerold Janssen gründet daraufhin gemeinsam mit Viertel-Ortsamtsleiter Robert Bücking eine Bürgerinitiative gegen den Erhalt des Stadionbades in den Grenzen von 2004.

24. Dezember: Das BSSB-Finale wurde mit Spannung erwartet, schließlich schaffte es niemand, in die zweite Runde. Weder Bildungssenator Willi Lemke, noch Werder-Trainer Thomas Schaaf, Sozialsenatorin Karin Röpke oder Theater-Intendant Klaus Pierwoß konnten die Jury überzeugen. Umso größer die Überraschung, als Scherf mit einer kleinen Gestalt unter dem Arm die Bühne betritt und die Siegerin präsentiert: „Meine liebe Tine, ich traue dir dieses Amt zwar überhaupt nicht zu, aber die Jungs passen schon auf, dass du nichts falsch machst, gell“, umarmt er die mehrfache Ex-Senatorin Christine Wischer. Die singt ein weihnachtliches „Kling Glöckchen Klingelingeling“ und verabschiedet sich aus dem Rampenlicht.

Eiken Bruhn, Elke Heyduck, Markus Jox