Knollen statt Fremdsprachen

Die Berliner Waldorfkindergärten werden 50 Jahre alt. Trotz Kritik am anthroposophischen Weltbild – ihre Popularität wächst. Im Jubiläumsmonat laden Waldorfeinrichtungen zum Tag der offenen Tür. Ein Besuch im Waldorfkindergarten in Treptow

„Der religiöse Anstrich verunsichert uns“, sagt Vater Oberländer

VON JENNY MARRENBACH

Wer wissen will, wie die heile Welt aussieht – in einem Kindergarten in Treptow wird er fündig. Die Innenräume sind in warmen Farben gestrichen. Die Möbel aus Holz, überall hängen bunte Tücher, Steine, Kristalle und bunte Ahorn- und Buchenblätter, die Herbststimmung verbreiten. Der vierjährige Elias hockt vor einer selbstgezimmerten Holzkiste und puhlt getrocknete Apfelringe ab, die auf dünnen Stäben aufgespießt sind. Neben ihm sitzt die Erzieherin Birgit Lehmann: „In jedem Stüblein wohnen Kernlein schwarz und weiß …“, singt sie und hilft Elias, die getrockneten Scheiben in ein Glas zu stecken. „Als Vorrat für den Winter“, sagt sie.

Es ist Tag der offenen Tür im Kindergarten der Freien Walddorfschule Südost in Treptow. Die jungen Eltern Jenny Würzburg und Frank Oberländer nutzen diesen Anlass, um sich zu informieren, ob diese Einrichtung auch was für ihre dreijährige Tochter Emilia ist. Sie sind beeindruckt von Elias und den Apfelringen, von den Lammfellen im Raum, dem Holzwerkzeug und den gestrickten Kuscheltieren. Auch Tochter Emilia ist hingerissen. Schüchtern, aber interessiert beobachtet auch sie, was Elias und die anderen Kinder so machen.

Berlins Waldorfkindergärten feiern in diesem Monat ihr 50-jähriges Bestehen. Im Oktober 1958 eröffnete in Berlin der erste Waldorfkindergarten – mittlerweile existieren in Berlin-Brandenburg 45 von ihnen. Besonders in Mitte und Prenzlauer Berg ist die Nachfrage groß. Erst Ende August hat in der Choriner Straße ein neuer Kindergarten eröffnet.

Jenny Würzburg und Frank Oberländer haben bereits drei Kindergärten inspiziert. In einem habe es sogar Fernseher und Computer gegeben, erzählt Mutter Würzburg. „Das geht für uns überhaupt nicht.“ Vom Kindergarten der Freien Waldorfschule Südost sind sie angetan. Vater Oberländer mag das Spielmaterial, Mutter Würzburg findet das gesunde Essen gut. Nur mit der Ideologie Rudolf Steiners, die hinter der Waldorfpädagogik steht, könnten sie sich nicht so recht anfreunden. „Die ist uns fremd“, sagt Oberländer.

In der Tat sind die Schriften Steiners immer wieder in die Kritik geraten, weil sie angeblich rassistische Züge aufweisen. So gibt es Passagen, in denen er einen Zusammenhang zwischen Intelligenz und Hautfarbe herstellt. Eine systematische Rassenlehre kann aber nicht nachgewiesen werden. Erst im September veröffentlichte die anthroposophisch orientierte Zeitschrift info3 ein Memorandum, in dem die Rassismusvorwürfe auf einer wissenschaftlichen Ebene untersucht wurden. Jens Heisterkamp, ein Mitverfasser dieser Studie, plädierte dafür, Steiners Aussagen vor dem historischen Hintergrund einer spätkolonial und eurozentristisch geprägten Epoche zu sehen. Auch Thomas Grofer vom Rudolf-Steiner-Haus in Hamburg weist die Vorwürfe ab: „Es gibt 16 konkrete Zitate aus einem Werk von 90.000 Seiten.“ Grundsätzlich gehe es bei Steiner um andere Sachen als die Ausgrenzung von Menschen mit anderer Hautfarbe.

Birgit Lehmann vom Waldorfkindergarten in Treptow überzeugt vor allem Steiners pädagogische Lehren. „Steiner teilt die menschliche Entwicklung in Abschnitte von sieben Jahren ein – sogenannte Jahrsiebende“, erzählt Lehman. Dies sei ein zentrales Element der Waldorfpädagogik. So sollen die Kinder in den ersten sieben Jahren ihre Erfahrungen hauptsächlich durch Tasten und Ausprobieren machen. Lernkonzepte, in denen Kindern schon früh eine Fremdsprache oder gar Computerkenntnisse nahegebracht werden, würden eine kindgerechte Entwicklung hingegen behindern, sagt Lehman.

Deswegen legen Waldorfpädagogen so viel Wert auf Erfahrungen in der Natur. Jeden Tag nach dem Frühstück gehen die Kinder in den Garten – selbst bei schlechtem Wetter. An diesem sonnigen Oktobervormittag blühen entlang den Stufen zum Eingang noch gelbe Topinambur, eine Blume mit einer kartoffelähnlichen Knolle. „Wenn der erste Frost kommt, holen wir die Knollen aus der Erde“, erzählt Erzieherin Jeanette Stuhrmann-Hübler. „Dann können die Kinder auch das probieren.“

Auf der Wiese liegen noch Strohreste verstreut. Das ganze Jahr über haben die Erzieherinnen mit den Kindern ein Feld beackert, von der Aussaat im Frühjahr bis zum gebackenen Brot im Herbst – alles haben sie selbst gemacht. Auch Obst und Gemüse wachsen im kindergarteneigenen Gemüsebeet. „Es ist uns wichtig, dass die Kinder Erfahrungen im Garten machen“, sagen die Waldorfpädagoginnen. Viele von ihnen hätten ja keinen zu Hause. Der Kontrast zur heilen Waldorfwelt ist nur wenige Meter entfernt. Gleich hinter dem Gartenzaun toben Kinder des benachbarten Kindergartens. Neben dem lindgrünen Anstrich, den Blumenbeeten und den Holzfenstern des Kindergartens der Freien Waldorfschule Südost wirkt der mit seiner Betonfassage geradezu trist. Alles ist eckiger und härter – eben ein Stückchen weniger heile Welt.

Zur Waldorfpädagogik gehört auch die Beschäftigung mit dem christlichen Glauben. Nicht nur, dass ganz selbstverständlich die großen christlichen Feiertage wie Ostern oder Weihnachten gefeiert werden. Auf den Fensterbänken der Gruppenräume stehen Bilder von der heiligen Maria. Und zu jedem Frühstück gehört ein Tischgebet, bei dem Erzieherinnen und Kinder „Gott und allen Elementen“ danken.

Jenny Würzburg und Frank Oberländer stehen im Garten und diskutieren. „Wir sind uns nicht sicher, wie wir den religiösen Anstrich hier finden“, sagt Oberländer. In der einen Hand hält er eine Harke, in der anderen eine Kinderschubkarre. Tochter Emilia hat die Arbeitsgeräte bei ihm abgelagert. Ihre Scheu ist längst verflogen. Auch die Bedenken ihrer Eltern scheinen sie nicht zu interessieren. Sie beschäftigt sich mit ganz anderen Dingen. Zum Beispiel, ob sie einen Platz im Bollerwagen kriegt. Da wird nämlich gerade Busfahren gespielt.