Die Familie in der Gummisteilwand

Durch die Lüfte sausen kostet Kraft. Für die Flugeinsätze in „De la guarda“ trainieren deshalb ständig neue Darsteller. Da wird selbst Party zur Arbeit

von JANA SITTNICK

Sie spielen kein Theater. Sie sindAnarchoakrobaten, fliegen durch die Lüfte, laufen an Wänden hoch, kreischen, stampfen, zappeln. Das ist Hochleistungssport. Fünfzehn Tänzer, Schauspieler und Freeclimber bilden das Herzstück der Performance-Show „De la guarda“ (s. taz vom 17. 12. 2002), die vor zehn Jahren in einem Armenviertel von Buenos Aires begann und seit sieben Jahren durch die Welt tourt.

Eine große Familie, so will der Show-Act mit mittlerweile hundertzwanzig Mitarbeitern gesehen werden, doch eine große Familie mit vielen Ersatzspielern. Ein Performer bleibt ein Jahr dabei, höchstens zwei. Der Job ist anstrengend und der Verschleiß hoch: Immer wieder gehen die Darsteller an ihre körperlichen Grenzen beim Tanz hoch oben und den Stürzen durch den Luftraum. In Berlin geben sie acht Vorstellungen in der Woche, an drei Tagen auch zwei hintereinander. Seit ihr Gastspiel im Dezember begann, läuft hier auch ein aufwändiges Casting. Einige Profis wollen ausscheiden, und ihre Rollen müssen neu besetzt werden. Deshalb zieht man sich eine neue Showgruppe heran. Wenn „De la guarda“ Anfang März nach Köln weiterreist, wird es den „Berlin Cast“ mitnehmen und damit so manchen Traum vom Glück erfüllen.

Sechshundert Personen sind auf die Annonce für das offene Casting hin erschienen. Vier Tage lang wurden sie auf Fitness, Ausstrahlung und „Energy“ geprüft. Übrig blieben glückliche sechzehn ausgebildete Tänzer und Schauspieler, jung, Anfang bis Mitte zwanzig. In einem mehrwöchigen Workshop werden sie von den „De la Guarda“-Tänzern Claire Elliott und Dave Bray trainiert, sechs Stunden täglich. Dazu kommen fünf Shows pro Woche, die sie sich anschauen müssen.

Beim Training an einem Samstagnachmittag herrscht andächtige Stille in der alten Generatorenhalle. Dreißig Leute sitzen am Rand des abgedunkelten Raums und schauen zu der beleuchteten Gummisteilwand. Zwei Mädchen werden an Gurte geschnallt, die mit den riesigen Gerüsten des Sets verbunden sind. Dann setzt Musik ein, Techno mit wummernden Bässen, die Mädchen steigen in die Luft. Sie üben an der Gummiwand das Laufen in der Waagerechten, gekippt um 90 Grad. Sie flitzen in acht Meter Höhe die Wände lang mit noch nicht ganz synchronen Schritten.

Alessija Lause ist eine von ihnen. Sie gilt als Nachwuchshoffnung, hat genau das richtige Charisma und „Energy“. Nach einer halben Minute werden die beiden heruntergeholt, Trainerin Claire korrigiert ihre Bewegungen. Dann ist Feierabend für die Neuen, während Claire und Dave noch durch zwei Vorstellungen hechten. „Im Moment denke ich an nichts anderes als an die Gruppe“, sagt Alessija, „De la guarda ist wie eine große Familie.“ Die neue Familie hat ihr Leben aufgesogen, Freizeit außerhalb gibt es für sie nicht. Entweder sie macht Party mit den Workshopfreunden, oder sie fällt zu Hause todmüde ins Bett.

Mit 22 Jahren ist Alessija die Jüngste. Theater spielte sie schon als Kind, besuchte dann eine Schauspielschule in Zürich und arbeitete als Regieassistentin in Kroatien, dem Geburtsland ihrer Mutter. Die blonde Frau in den schlabbrigen roten Trainingshosen ist von „De la guarda“ begeistert. Die Stimmung sei toll, kein Neid, keine Konkurrenz. Und sie mittendrin. „Die Show ist im Moment mein Lebensmittelpunkt“, sagt sie strahlend.

Auch Felix Powroslo ist begeisert. Der 26-jährige Westfale hat die „De la guarda“-Show schon vor drei Jahren in London gesehen. Von dem Berlin-Casting im Dezember erfuhr er zufällig, als er Freunde besuchte. Der Musicaldarsteller, der früher in großen Mainstreamproduktionen wie „Tommy“ oder „Hair“ auftrat, und zurzeit in Halle Sprechwissenschaft studiert, glaubt, dass er eine gute „Bühnenenergie“ hat. Zu schaffen macht ihm die Corrida, eine Figur, bei der zwei Performer in der Luft einen imaginären Kreis abrennen und aufeinander zuspielen. „Wenn du da nicht aufpasst und stolperst, kannst du den Kontakt zur Brüstung verlieren. Dann baumelst du in der Mitte, und kommst nicht mehr weiter.“ Vierzehn Corrida-Runden drehen die Profis in der Show, Felix schafft im Workshop gerade mal neun. Es ist noch nicht klar, ob alle Neuen tatsächlich Ensemblemitglieder werden und zur großen Familie gehören dürfen, die an jenem Samstagnachmittag im Backstage des Öfteren beschworen wird. Am Ende der Berliner Spielzeit, so sieht es der Tourplan vor, wird die Zweitbesetzung feststehen. Bis dahin laufen die Trainings, die Proben und die Shows wohl mit viel „Energy“.

„De la guarda“. Vorstellungen noch bis zum 1. 3., Mi.–So. ab 19 Uhr bzw. 20 Uhr, PankowPark, Lessingstraße 79, Wilhelmsruh Infos unter www.delaguarda.de