Wählbare Identitäten

Halb-kriminologische Spurensuche und der Versuch, ein Leben zu rekonstruieren: Sibylle Lewitscharoff kommt im Roman „Montgomery“ nicht in Fantasien, sondern in Rom an

von LIV HEIDBÜCHEL

Die Gabe, Merkwürdigkeiten in bestechende Prosa zu packen, hat sie sich bewahrt: Montgomery heißt der Roman, den Sibylle Lewitscharoff nach fast vierjähriger Pause jetzt vorlegt. Für Pong hatte sie 1998 den Ingeborg-Bachmann-Preis erhalten – für eine Geschichte, die in den verschwurbelten Gehirnwindungen eines geistig Verstiegenen spielt. Diesen Wahnwitz verließ die Autorin mit Der höfliche Harald, einer ebenfalls skurrilen Geschichte, allerdings für Kinder und Erwachsene. Damit weder die Abenteuer des Protagonisten noch die Illustrationen zu sehr verwirren, löst sich hier am Ende alles in Wohlgefallen auf.

Und nun also Montgomery. Sibylle Lewitscharoff, Jahrgang 1954, porträtiert hier einen aus Stuttgart nach Rom emigrierten erfolgreichen Filmproduzenten: Montgomery Cassini-Stahl. Beziehungsweise lässt porträtieren: „Er war allein, und ich war betrunken, nachts um kurz vor vier auf dem leeren Campo de‘ Fiori, wo ein einsames Reinigungsfahrzeug sein gelbes Blinklicht um den Platz warf. Erstaunlich, nach so langer Zeit, immerhin hatten wir uns seit vierzig Jahren nicht gesehen.“ So beginnt der Roman. Doch kaum haben sich die Schulkameraden getroffen, verlieren sie sich schon wieder aus den Augen. Und wenige Tage später ist Montgomery Cassini-Stahl tot. Anlass für den Journalisten Rolf Knopp, sich Montgomery anzunähern.

Die Idee vom Buch im Buch ist hier stimmig, weil sie die zwangsläufig eingeschränkte Sicht auf ein Leben aufnimmt. Rolf Knopp erfindet sich aus den Erzählungen der anderen einen Montgomery Cassini-Stahl. Kein leichtes Unterfangen, hat der Filmemacher doch mindestens so viele Identitäten wie Namen. Der Porträtist entscheidet sich für die italienische Seite des Verstorbenen: Cassini. Viele andere Varianten tauchen auf. Nie jedoch Montgomery. Dieser hochtrabende Name war immer eine Last und holt den Mittfünfziger schließlich am Set wieder ein: Hier arbeitet er an einem Remake des Jud Süß, um dem historischen Joseph Süß Oppenheimer gerecht zu werden. Als der Hauptdarsteller einen Tag fehlt, muss Montgomery selbst ran. Weiter ab von Namensvetter Montgomery Clift könnte er kaum sein. Den Namen hatte sein italienischer Vater durchgesetzt - und dann bald die Familie verlassen. Auch die Mutter ist für Montgomery eine Fremde. Am schlimmsten ist der Großvater, ein aufrechter Nazi. Und dann taucht in der Erinnerung des Protagonisten noch der ältere Bruder im Rollstuhl auf. Doch auch der ist schon lange tot. Umgebracht von Cassini selbst?

Der Roman sucht so viele Spuren, wie er Fragen aufwirft. Er folgt dem durch krude Erziehungsmethoden stur gewordenen Kind. Er beschreibt die Zuneigung zum römischen Onkel. Er versucht in das Leben des berühmten, einsamen Mannes einzutauchen. Und er schildert dessen letzte große Verliebtheit in eine bedeutend jüngere Frau. Diese letzte Eroberung beschwingt, überfordert – schließlich bringt sie ihn um. Die schwäbische Mutter kommentiert das trocken: „Chronik eines angekündigten Infarktes“ solle Knopp sein Buch taufen. Tatsächlich steht der Tod schon auf Seite 11. Was vorher war, kommt danach. So legt der Roman zum Ende hin an Tempo zu. Unkontrollierbar drängt sich Montgomery seine Vergangenheit auf. Er schwitzt, er ringt um Haltung – die Verwirrung weht ihn trotzdem um.

Hier kehrt Lewitscharoff stilistisch am deutlichsten zu Pong zurück, lässt das Abdriften jedoch bedrohlicher erscheinen. Die Autorin überrascht immer wieder mit unverbrauchten Wörtern, ohne dem derzeit grassierenden Metapher-Manierismus zu verfallen. Obendrein liefert sie eine Stadterkundung – bezeichnenderweise realer als der ganze Rest.

Sibylle Lewitscharoff: Montgomery, 352 S., DVA, 19, 90 Euro; Lesung: heute, 20 Uhr, Literaturhaus, Schwanenwik 38