Süße Lärmwälle

Nennen wir‘s doch einfach Now Wave: „Gorge Trio“ und „Deerhoof“ spielen alleraufregendste Gitarrenmusik

1991 war das Jahr, in dem Punk brach, Nirvana explodierten und Indierock zu Mainstream wurde. In dieselbe Zeit fallen die ersten Veröffentlichungen zweier Labels, die den Rock-Untergrund der Neunziger prägen sollten: Das in Olympia, Washington, beheimatete Unternehmen Kill Rock Stars begann damals mit Spoken-Word-Singles und mauserte sich bald mit Platten von Bands wie Bikini Kill, Huggy Bear und Unwound zur wichtigsten Adresse für politisch bewussten Punkrock.

Skin Graft war seinerseits schon 1986 als Comic-Verlag gestartet; erst fünf Jahre später machte man sich einen Namen als Platten-Label: Skin Graft bescherte uns Free-Jazz-Psychopathen wie die Flying Luttenbachers und das Glamrock-Weltwunder Bobby Conn. Als Lieferanten neuer, aufregender (Gitarren-)Musik haben beide Labels nichts an Bedeutung eingebüßt. Das Gorge Trio und Deerhoof, die jetzt gemeinsam im Molotow gastieren, sind nur zwei weitere Beispiele dafür.

John Dieterich (Gitarre), Ed Rodriguez (Gitarre) und Chad Popple (Schlagzeug) bildeten bis 1999 mit dem Sänger, Gitarristen und Skin Graft-Urgestein Nick Sakes die Gruppe Colossamite. Daneben gründeten die drei in San Francisco, Milwaukee und Hamburg lebenden Amerikaner 1997 das rein instrumentale Gorge Trio. Wirkte ihr Debüt, Dead Chicken Fear No Knife, noch zu gleichen Teilen improvisiert wie komponiert, wagte die Band auf dem For Loss Of betitelten Nachfolger, einer Kooperation mit dem Free-Jazz-Klarinettisten Milo Fine, den entscheidenden Schritt in die vollständig freie Musik. Auf seinem neuen Album, das im Sommer bei Skin Graft erscheint, klingt das Gorge Trio konzentrierter denn je. Ob sie sich in spastischen Zuckungen üben, wackelige Lärmwälle aufschütten oder vereinzelte Geräusche austauschen – immer ist zu spüren, dass diese drei hier nicht zum ersten Mal aufeinander treffen.

Deerhoof kommen aus San Francisco und haben drei Alben auf Kill Rock Stars veröffentlicht. Auffälligstes Merkmal ihres Sounds ist die zarte Stimme von Sängerin Satomi Matsuzaki, die ihre textlosen Melodien im Duett mit einem kleinen Keyboard singt, während die übrigen Mitglieder – einer von ihnen wiederum Dieterich vom Gorge Trio – zwischen minimalistischen Post-Rock-Patterns und ziemlichem Donnerwetter hin und her wechseln: süße Hooks und instrumentale Meditationen, unvermittelte Lautstärke-Ausbrüche, harsche Breaks und brutale Übersteuerungen.

Das letzte Konzert ihrer Europa-Tour bestreiten Deerhoof und das Gorge Trio am Sonnabend mit dem französischen Instrumental-Duo Cheval de Frise. Die Veranstalter kündigen eine der “Postrock- oder besser: Jazz-Shows des Jahres“ an. Nennen wir‘s doch einfach „Now Wave“.

Michele Avantario

Sonnabend, 21 Uhr, Molotow