Sarrazin spart Taschengeld

Seit Jahresbeginn spart Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) beim Betreuten Jugendwohnen: Die Jugendlichen müssen nun jeden Cent umdrehen. Und sie fürchten wieder mehr um ihre Zukunft

von HEIKE KLEFFNER

Akin (19) träumt davon, Pilot zu werden. Thomas (19) möchte seinen Hauptschulabschluss nachholen. Karsten (18) will nach dem Abitur ein freiwilliges soziales Jahr machen und Soziologie studieren. Die drei Teenager mit ihren bunten Wollmützen, den weiten Hosen und den ordentlichen Kurzhaarschnitten würden auf den ersten Blick nirgendwo auffallen. Wenn da nicht Geschichten wie die von Thomas wären: Stress mit dem Stiefvater, mit 13 ins Heim, nächtliche Einbrüche in Bungalows und Autos, Alkohol bis zum Umfallen.

Mit 17 gehörte er zu den rund 3.000 Kindern und Jugendlichen, die in Berlin auf der Straße leben. Bis er „austickte“ und den Weg zur Beratungsstelle „JugendWohnPlatz“ in Schöneberg fand. Dort wurde Thomas ein Platz in einer Betreuten Jugendwohngemeinschaft vermittelt. „Ohne die WG wäre ich jetzt auf der Straße oder in der Klapse“, sagt er.

Auch seine Mitbewohner Akin und Karsten kennen den Wunsch „einfach abzuhauen“. Karsten kam mit 14 Jahren ins Internat. Was als Alternative zum „ständigen Streit zu Hause“ gedacht war, erwies sich jedoch als Falle. Irgendwann erfuhr er von einer Betreuten Jugendwohngemeinschaft.

Akin kennt seinen in den USA lebenden afroamerikanischen Vater kaum; seine Mutter war „völlig überfordert“. Aber er ist stolz, dass er gemeinsam mit der Mutter beim Jugendamt einen WG-Platz beantragt hat. Seitdem verläuft sein Alltag in geregelten Bahnen, das Verhältnis zur Mutter hat sich sogar wieder verbessert.

„Wenn man selbst nicht klarkommt, gibt es in der WG immer jemanden, der einen unterstützt“, erklärt Karsten. Zwei Sozialpädagoginnen, die bis zum Abend da sind, oder einer der anderen Mitbewohner.

Akin und Karsten gehen vormittags ins Gymnasium, Thomas sucht nach seinem Abschluss als Restaurantfachmann einen Arbeitsplatz. Nachmittags stehen „ganz normale Freizeitsachen“ auf dem Programm: von Volleyballspielen über Schlittschuhlaufen bis zum Einkauf für den WG-Kühlschrank und das tägliche Kochen für die gesamte Gruppe. Mit dem Platz im „Betreuten Jugendwohnen“, da sind sich die drei Teenager einig, haben sie Glück gehabt. Bis jetzt zumindest.

Denn sie gehören zu denjenigen, bei denen Berlins Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) für die Haushaltsjahre 2002 und 2003 Sozialleistungen in Höhe von 83 Millionen Euro sparen will. Bislang überwies das Jugendamt Karsten, Akin und Thomas monatlich 335 Euro nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG). Ein Satz, der ein knappes Viertel über dem Sozialhilfesatz lag und nach dem Willen des Gesetzgebers wie ein Taschengeld als Anreiz für diejenigen Jugendlichen gedacht ist, die während ihres Aufenthalts im Betreuten Jugendwohnen ihre Schule oder Ausbildung beenden.

Seit dem 1. Januar steht bei Karsten, Akin und Thomas die Zahl 264,67 Euro auf dem Kontoauszug. Das ist der gewöhnliche Sozialhilfesatz. Davon müssen sie – außer Miete – fast alles bezahlen: Strom, Telefonrechnung, Monatsmarken für die BVG, Essen und Kleidung. Wo Finanzsenator Sarrazin Millionen sparen möchte, drehen Karsten, Akin und Thomas nun jeden Cent um.

Zum Beispiel beim Essen. 120 Euro zahlt jeder monatlich für Lebensmittel und alltäglichen Haushaltsbedarf in die WG-Kasse. „Vorher war Kochen nie ein Streitpunkt“, erzählt Karsten. „Jetzt kaufen wir kein Fleisch mehr. Rezepte aus dem Kochbuch auszuprobieren fällt auch aus.“ Das Volleyballspielen zahlen die Betreuer aus eigener Tasche. Die Gruppenreise ins Ausland, für die monatlich gespart wurde, muss wohl gestrichen werden. „Nebenher arbeiten dürfen wir nicht, weil wir das Geld vom Jugendamt bekommen“, erklärt Karsten seinen engen Finanzrahmen. „Außerdem würde ich sonst das Schulpensum nicht schaffen.“

Schwerer als die Einschränkungen im Alltag belastet die Teenager jedoch ein zweites Element aus Sarrazins Sparladen. Unter dem Stichwort „Verselbstständigung“ wird der Zeitraum, für den die Jugendämter den Aufenthalt im betreuten Jugendwohnen finanzieren, immer kürzer.

Zwar bietet das Kinder- und Jugendhilfegesetz Spielraum, um einen WG-Platz bis zum 21. Lebensjahr zu garantieren. Doch die Praxis sieht mittlerweile anders aus. „Mit 18, spätestens 19 ist Schluss“, hat Akin festgestellt. Bei seiner letzten „Jugendhilfekonferenz“ im November, als mit der Sozialarbeiterin vom Jugendamt und einem Sozialpädagogen aus dem Team seiner Wohngemeinschaft der so genannte Hilfeplan besprochen wurde, war klar: Nach den Osterferien erlischt Akins Anspruch auf Jugendhilfe. Er muss aus der Betreuten Wohngemeinschaft ausziehen; seinen Lebensunterhalt zahlt dann das Sozialamt.

Der Verlust des „Zuhause“, die Wohnungssuche und die Ungewissheit, „alleine klarzukommen“ – alles ziemlicher Stress für Akin. Seine größte Angst: das letzte Schuljahr bis zum Abitur nicht mehr durchzuhalten. Auch Karsten, bei dem die Jugendhilfe noch einmal um drei Monate verlängert wurde, fürchtet sich vor dem Auszug des Mitbewohners: „Man kann sich nicht ständig auf Neue einlassen; das Gefühl von Sicherheit verschwindet jeden Tag ein Stück mehr.“

Unter dem Motto „Wir wehren uns“ mobilisieren Projekte und Jugendliche morgen zu Protestaktionen. Treffpunkt: 17–19 Uhr am Springbrunnen auf dem Alexanderplatz